Brutort #1: Wovon bist Du dieses Jahr angesteckt – und wovon geheilt?

Brutort #1: Wovon bist Du dieses Jahr angesteckt – und wovon geheilt?
Lass uns mal Zeit nehmen, um gemeinsam was auszubrüten. Mal sehen, was dabei entsteht.“ Diesem Impuls sind wir (Claudia Schröder und Karin Volbracht) gefolgt. Wir haben unser Experiment „Brutort“ genannt. Die Regeln für den Brutort: begrenzte Zeit, Entscheidung für ein Thema, Fragen dazu entwickeln und dann zeitgleich online in einem Dokument schreiben wie im Gespräch. Das perfekte Lockdown-Format!
Die Fragen zur Reflexion der aktuellen Situation
(zum eigenen Nachdenken, allein oder mit anderen):
- Was macht mich krank – welche Sorgen oder Ängste habe ich?
- Medizin ohne Nebenwirkungen – was tut mir gut?
- Wovon bin ich vielleicht geheilt? Wovon bin ich weg?
- Wovon bin ich im guten Sinne „angesteckt“?
Und wenn Dich interessiert, was wir in unserem ersten Brutort augebrütet haben, kannst Du hier weiterlesen:
Was macht mich krank – welche Sorgen oder Ängste habe ich?
Claudia: Zu Beginn der Pandemie im März 2020 erkrankte ich selbst. Meine Symptome ließen sich in die damals wenig bekannten Symptome von SARS-Cov19 einordnen. Es herrschte im März noch völlige Unsicherheit durch Unwissen. Ich bin sofort in häusliche Quarantäne und Distanz zu meiner Familie gegangen. Das war schon ein komisches Gefühl, nicht zu wissen, ob ich jetzt das habe. Dazu kam die die Sorge, womöglich meine Familie angesteckt zu haben, während ich alleine in meinem Kämmerchen dämmerte.
Wissen, wie ich agieren kann.
Claudia
Zu der Zeit war mir der Unterschied zwischen Bakterien und Viren nicht mal bekannt. Recht rasch begann ich nach wissenschaftlicher Information zu suchen. Ich war dankbar, dass viele Wissenschaftler:innen ihr Wissen freizügig teilten. Durch die unterschiedlichen Podcasts, Gespräche mit Ärztinnen, etc. hat sich zügig Sicherheit bei mir eingestellt.
Mein starkes Bedürfnis ist zu wissen, wie ich agieren kann (statt reagieren).
Geblieben ist jetzt noch eine kleine Sorge meine Liebsten anzustecken, falls ich einmal nicht mit wachem Verstand unterwegs sein sollte. Das würde ich mir nie verzeihen. Und dies spornt mich gleichzeitig täglich an, mich bewusst zu bewegen, um nicht andere zu gefährden.
Karin: Mir ging das ähnlich. Ganz klar, ich möchte diese Krankheit nicht bekommen – und noch weniger möchte ich andere infizieren. Diese Sorge ist die größte. Doch es gibt noch mehr. Kennst Du das Lied “Ich zähle täglich meine Sorgen”? Da kommt eine variantenreiche Liste zusammen, die sich im Laufe der letzten Monate komplett verändert hat: Am Anfang war die Sorge und eine ökonomische Angst angesichts von vielen Stornierungen. Nachdem ich gesehen habe, dass es auch online gut läuft, kamen andere Sorgen an die Stelle. Wie bewältigen meine Lieben die Situation – vor allem meine betagte Mutter und mein studierender Sohn? Wie kann ich ihnen am besten helfen? Und jetzt beschäftigt mich mit großer Sorge, wie unser Gesamtsystem das Ganze verkraftet. Welche Gräben tun sich da weiter auf? Welche destruktiven Energien werden frei? Welche Spannungen treten offen zutage? Das bereitet mir angesichts meiner eigenen Unversehrtheit bisher die größte Sorge.
Claudia: Da sprichst du aus meiner Sicht einen wichtigen Punkt an. Als fachliche Literatur fällt mir zu gesellschaftlichen gruppendynamischen Effekten Luc Ciompi ein, der seine Theorie der Affektlogik aufgrund großer geschichtlicher Krisen erklärt hat.
Karin: Und ich schau viel in die USA und denke an Ken Wilber und das Buch “Trump and the post-truth world”. Wilber hat mir vom integralen Standpunkt aus erklärt, was “Grün” in den letzten Jahrzehnten alles vermasselt hat, damit Trump seine offen realitätsverleugnende Bewegung mobilisieren konnte.
Medizin ohne Nebenwirkungen – was tut mir gut?
Karin: Da gibt es den wunderbaren Satz “It’s okay not to be okay.” Der hat mir gutgetan. Mit populistischen Motivations- und Chakka-Methoden würde ich ja nur verdrängen, dass es seit Monaten in vielen Bereichen nicht gut ist und meine Bedürfnisse z.B. nach Nähe, nach vielen Menschen, auch nach Feiern, Tanzen und Umarmen schlicht und einfach im Mangel sind. Und dieser Mangel ist erstmal nicht “meine Schuld” sondern situativ bedingt. Wenn mir jemand an schlechten Tagen das hohe Lied des positiven Denkens singt, dann denk ich bei mir: “Einem Verhungernden würde ich auch nicht erklären, dass er erstmal an seinem Grundumsatz arbeiten sollte.” Der Mangel ist da und muss anerkannt werden. Erst auf der Basis habe ich anfangen können, meine eigene Strategie zu entwickeln.
“It’s okay not to be okay.”
Karin
Claudia: Im Umgang mit dem vielen Fehlen von etwas, was mir lieb und teuer war, habe ich geschaut, was mich in früheren Krisenzeiten stabilisierte und mich mit Energie versorgte. Dabei ist mir in unserem Gespräch aufgefallen, dass mich immer meine Arbeit stabilisiert und diese nun von heute auf morgen komplett weg war (übrigens auch eine interessante Erfahrung). Dann habe ich geschaut, was es darüber hinaus noch für mich gab und mir fielen zwei wichtige Energiequellen ein: Beispielsweise wenn ich draußen in der Natur sein oder mit den Händen arbeiten (gärtnern, eigene Früchte verarbeiten, stricken, etc.) kann. Das bleibt trotz alledem. Anfangs habe ich das extrem hoch geregelt und die Lücke dadurch gefüllt. Und seit dem Sommer hat sich meine Arbeit neu eingespielt und energetisiert mich wieder. Das Andere behalte ich wenn auch wieder in reduzierter Form bei. Zusätzlich habe ich einen Selbstüberlistungstrick entwickelt, meinen inneren Schweinehund zu überwinden und treibe seit Juli wieder unregelmäßig Sport ;). Das war eine bewusste Entscheidung, da sich dadurch die ganzen Spannungen aus dem Körper leiten lassen und reinigend wirkt.
Arbeit kann stabilisieren.
Claudia
Karin: Ja, draußen sein und Bewegung tut mir immer gut. Ich darf ja nicht mehr draußen in meinem Lieblingsbad schwimmen. Deshalb gehe ich jetzt manche Strecken, die ich sonst schnell mit dem Rad erledigt hätte, bewusst zu Fuß und entdecke in meinem nahen Umfeld sogar neue Dinge. Ich habe auch meine Gitarre wieder frisch gemacht und klampfe munter vor mich hin. Gemeinsam Kochen und Essen tut gut. Stricken abends auf dem Sofa, wenn Fernsehen allein zu fad ist…
Welche Unverträglichkeiten tauchen bei Dir auf?
Karin: Ich habe eine starke Unverträglichkeit aufgebaut gegen alle Arten von Schwarz-Weiß-Malerei und gegen unterkomplexe Erklärungen. Es sind derzeit so viele Strebungen und Bedürfnisse auf Kollisionskurs: Die Bedürfnisse der jüngeren und der älteren Menschen, soziale, pädagogische, medizinische, virologische, ökonomische und ökologische, regionale, nationale, globale Bedürfnisse. Die Corona-Zeit ist die Zeit der ungelösten Spannungen und Widersprüche. Das ist extrem komplex. Simple Antworten lassen mich allergisch reagieren. Und zugleich habe ich angesichts dieser Komplexität manchmal das Gefühl von Hilflosigkeit.
Zeit der ungelösten Spannungen und Widersprüche.
Karin
Wovon bist Du geheilt? Wovon bist Du weg?
Karin: Puh, das ist für mich die schwerste Frage. Wovon bin ich geheilt? Da liegt für mich auch wieder die Gefahr des zwanghaften positiven Denkens, deshalb meldet sich mein innerer Widerstand. Ich habe manchmal Zustände, in denen ich wie ein trotziges Kind “einfach mein schönes Leben wiederhaben” möchte. Aber ich geh mal in mich. (…) Also, wenn ich ehrlich bin, bin ich nur von einer Sache “weg”: Dem wahllosen Kanal-Zapping abends vor der Glotze, weil grad nichts anderes los ist. Da gehe ich jetzt bewusster vor, schaue in Mediatheken oder wähle mit meinem Liebsten etwas bei Netflix. Das ist eher mager, oder?
Claudia: Ja, die Frage finde ich auch schwierig, weil ich vorher nicht das Gefühl hatte, in meinem Leben wäre etwas im Argen. Was sich in diesem Jahr noch einmal extrem verbessert hat, ist meinen CO²-Abdruck weiter zu reduzieren – das finde ich klasse. Meine geschäftlichen Reiseereignisse bewegen sich in Richtung 0 und die meiner Kunden haben sich um 50 % reduziert. Zudem bin ich von meinen Vorurteilen gegenüber virtuellen Arbeitsmöglichkeiten komplett geheilt – da haben sich für mich eine neue Arbeitsqualität und pfiffige Möglichkeiten aufgetan.
Ich bin von meinen Vorurteilen gegenüber virtuellen Arbeitsmöglichkeiten komplett geheilt.
Claudia
Karin: Im letzten Punkt stimme ich Dir zu. Meine virtuelle Lernkurve war steil und hat mir gezeigt, dass online manches auch besser und konzentrierter gelingen kann als offline. Manche Einzelcoachings in den letzten Monaten wären in Präsenz nicht so vollkommen fokussiert gewesen. Und Arbeit mit Gruppen kann im Virtuellen auch gewinnen, weil virtuelle Workshops oder Trainings meiner Erfahrung nach noch klarer und detaillierter strukturiert und vorbereitet werden müssen. Ich kann mich da weniger auf meine Erfahrung, Lösungsorientierung, Energie und Empathie verlassen, als wenn ich leibhaftig mit einer Gruppe arbeite.
Wovon bist Du im guten Sinne angesteckt?
Claudia: Die Krise bestärkt mich weiter, meine persönliche und berufliche Entwicklung weiter zu gehen. Wo kann ich am nützlichsten und wirksamsten sein und wo nicht? Mich macht der Umgang und der Raubbau an Mutter Erde ganz traurig und ich mag das nicht mehr hinnehmen. Da keimt gerade eine Idee oder ein Wunsch in mir, Organisationsformen zu finden, die sich mit der globalen Transformation und der Umsetzung neuer nachhaltiger Konzepte beschäftigen. Das finde ich spannend und mich treibt die Frage an “welche Position beziehst du künftig als Organisationsbegleiter:in dazu – wofür stehst du und wofür nicht mehr?”.
Karin: Im guten Sinne angesteckt bin ich auch von dem Ansatz “Unsere Welt neu denken”. Das Buch von Maja Göpel hat mich dieses Jahr inspiriert. Du hast es ja auch gelesen. Dass wir da bei uns im Netzwerk immer wieder nach Wirksamkeits-Möglichkeiten schauen, gefällt mir richtig gut.
Dann bin ich auch angesteckt und begeistert von all den Online-Möglichkeiten für meine Arbeit. Zu testen, mit welchen Mitteln Nähe und Vertrautheit über einen Bildschirm entstehen kann, welche Interventionen virtuell gut wirken und welche Tools meine Arbeit sinnvoll ergänzen, das macht mir Freude.
Es kann auch am Bildschirm Nähe und Vertrautheit entstehen.
Karin
Dazu gehört auch unser Experiment mit dem Brutort. Hier schreiben wir gleichzeitig an einem Dokument in OneDrive und es entsteht eine besondere Form des Dialogs. Ich sehe, dass Du etwas schreibst, lasse Dich schreiben und mache mich in der Zeit an meine Antwort auf eine andere Frage. Dann springe ich zu Deiner Antwort und reagiere darauf. Das geht munter hin und her. Schön!