Virtuell oder “in echt”? Neue Freiräume, neue Entscheidungen

Virtuell oder “in echt”? Neue Freiräume, neue Entscheidungen

Virtuell oder „in echt“? Das war vor Corona nur selten eine Frage. Die Begegnung in Präsenz erschien fast immer vorteilhafter, egal wie zeitraubend, teuer und klimaschädlich der Weg dahin war. Jetzt haben wir gelernt. Neue Handlungsmöglichkeiten sind entstanden und damit stehen neue Entscheidungen an. 

Vor ein paar Tagen saß ich mor­gens um 09:58 vor dem Bild­schirm und klick­te den Outlook-Termin für ein Coa­ching an. Doch in dem Kalen­der­ter­min war kein Link zu Teams, Zoom, Sky­pe oder sonst einem Video­tool gespei­chert. Mist, dach­te ich. Nahm mein Tele­fon und woll­te die Kun­din anru­fen, ob sie mir die Ein­la­dung schickt – oder ich ihr. Im sel­ben Moment ruft die Kun­din an: „Tut mir leid, ich fin­de kei­nen Park­platz. Ent­schul­di­gen Sie die Verspätung!“

Park­platz? Was hat der Park­platz mit Ver­spä­tung zu tun? Ich frag­te: “Wo suchen Sie denn einen Park­platz?” Ich war ver­wirrt. Es hat einen Moment oder auch zwei gebraucht, bis mein Gehirn mir funk­te: Für den Ter­min hat­ten wir uns zum ers­ten Mal in Prä­senz ver­ab­re­det. Die Kun­din war auf dem Weg zu mir. Leib­haf­tig. Des­halb war kein Link im Kalen­der. Das war noch so fremd, dass ich es ver­ges­sen hat­te. Und jetzt war sie fast vor der Tür – und hät­te längst geklin­gelt, wenn sie nicht per Auto unter­wegs gewe­sen wäre. 

Also blitz­schnell raus aus dem Online-Trott: Ordent­li­che Jeans anzie­hen, Schu­he nicht ver­ges­sen, Arbeits­raum besuchs­fä­hig machen. Das Flip­chart hat kein Papier mehr. Stif­te sind leer oder tro­cken. Papier und frisch auf­ge­füll­te Stif­te gefun­den. Erle­digt. Noch schnell eine Was­ser­ka­raf­fe und Glä­ser auf den Tisch. Schon ist die Kun­din da und strahlt, weil wir uns zum ers­ten Mal “in echt” erleben. 

Die gemein­sa­me Arbeit lief dann auf einer ande­ren, brei­te­ren und emo­tio­na­le­ren Ebe­ne. Die Kun­din sag­te als Fazit, dass sie ein heik­les The­men bei einem Video-Coaching zwar genau­so offen ange­spro­chen, aber viel­leicht nicht so inten­siv auch emo­tio­nal bear­bei­tet hätte. 

Anpassung und Lernen durch Corona machen jetzt andere Entscheidungen möglich

Online funk­tio­niert auch. Es funk­tio­niert sogar rich­tig gut. Das haben wir in all den Lock­downs in bes­ter Sach­lo­gik gedacht und gesagt. Und wir haben uns ange­passt. Was war ich froh über mei­ne Lern­kur­ve mit digi­ta­len Tools unter Coro­na. Was war ich stolz, auch im vir­tu­el­len Raum Momen­te vol­ler Inten­si­tät, Kon­zen­tra­ti­on und Ver­trau­en schaf­fen zu kön­nen. Doch im Gegen­satz zum klei­nen Bild auf dem Schirm ermög­licht Prä­senz die Begeg­nung in einer höhe­ren emo­tio­na­len und kör­per­lich spür­ba­ren Bild-Auflösung – Arbeit in HD (High Definition).

Die eine Selbst­ver­ständ­lich­keit – Arbeit in Prä­senz – wur­de durch eine neue Selbst­ver­ständ­lich­keit ersetzt – vir­tu­el­le Arbeit. Wir haben alle gelernt. Das Tol­le dar­an ist: Jetzt haben wir die Wahl und kön­nen bewusst ent­schei­den, wel­ches For­mat, wel­che „Auf­lö­sungs­qua­li­tät“ in der Wahr­neh­mung und wel­che Nähe es braucht, um jeweils gut zuein­an­der zu kom­men und als Coach, Trai­ne­rin oder Bera­te­rin sinn­voll die Zeit der Kund­schaft zu beanspruchen. 

Heinz von Foerster wäre begeistert: Mehr Wahlmöglichkeiten

Die Anpas­sung unter Coro­na hat mich in eine Lage ver­setzt, in der ich mehr Arbeits­mög­lich­kei­ten habe als zuvor und kom­pe­ten­ter ent­schei­den kann. Jetzt kann ich wäh­len und mit ande­ren Men­schen klä­ren, ob ich eine Dienst­rei­se antre­te, ob ich für ein Mee­ting oder eine Coaching-Session eine Stun­de Fahr­zeit in Ham­burg in Kauf neh­me, ob ich schnell meh­re­re Men­schen am Bild­schirm ver­samm­le. Gemein­sam mit mei­nen Kun­din­nen und Kun­den kann ich Kri­te­ri­en bil­den, wel­che The­men vir­tu­ell geeig­net sich und wel­che „in echt“ ein­fach bes­ser funktionieren.

Heinz von Foers­ter wäre begeis­tert. Der ethi­sche Impe­ra­tiv des Phy­si­kers und Kyber­ne­ti­kers beglei­tet mich schon seit Lan­gem. Er lau­tet: „Hand­le stets so, dass die Anzahl der Wahl­mög­lich­kei­ten grö­ßer wird!“

Jetzt kön­nen wir Kate­go­rien bil­den, die die Wahl­mög­lich­kei­ten erleich­tern. Geht es um CO2-Ausstoß und damit um Kli­ma­schutz bei der Rei­se? Geht es um das Ver­hält­nis Fahr­zeit – Arbeits­zeit? Geht es um eine hohe, fei­ne Wahr­neh­mungs­qua­li­tät von kör­per­sprach­li­chen und kom­mu­ni­ka­ti­ven Nuan­cen? Ist das The­ma emo­tio­nal gela­den oder span­nungs­voll? Hilft es im Work­shop, wenn alle Teil­neh­mer sich auch per­sön­lich begeg­nen? Braucht es den infor­mel­len Aus­tausch beim Kaf­fee? Den Spa­zier­gang? Das gemein­sa­me Essen und Trin­ken? Ist die Bezie­hung sta­bil genug, dass sie auch ein vir­tu­el­les Gespräch über Kon­flik­te trägt?

Jetzt haben wir die Wahl. Immer­hin das ist bes­ser als vorher.

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