Verbunden im Konsent – die Prinzipien der soziokratischen Kreisorganisation

Sozio­kra­tie ist ein Begriff, der immer mal wie­der fällt, wenn es um moder­ne Ent­schei­dungs­ar­chi­tek­tu­ren für Unter­neh­men geht. Die sozio­kra­ti­sche Kreis­or­ga­ni­sa­ti­on ist eine Alter­na­ti­ve zur pyra­mi­den­för­mi­gen Lini­en­or­ga­ni­sa­ti­on und zu deren Top-down-Entscheidungspraktiken. Wie genau sie funk­tio­niert und wie sie auf­ge­baut ist, erläu­tert die­ser Beitrag.


Die Sozio­kra­tie als ver­bes­ser­te Form der Demo­kra­tie wur­de vom nie­der­län­di­schen Reform­päd­ago­gen Kees Boe­ke (gespro­chen „Büke“ und nicht „Böke“) begrün­det. Er schil­der­te das Kon­zept 1946 in sei­nem Buch Rede­li­j­ke orde­ning von de mensen­ge­me­en­schap (etwa: Ver­nünf­ti­ge Ord­nung der mensch­li­chen Gemein­schaft). Sei­ne Frau erzähl­te spä­ter, dass ihr Mann die Grund­prin­zi­pi­en kurz vor Kriegs­en­de 1945 in einem Essay mit dem Titel „Geen Dic­ta­tuur!“, also „Kei­ne Dik­ta­tur!“ for­mu­lier­te, den er in sei­ner Man­tel­ta­sche mit sich trug und des­halb bei­na­he von den Nazis erschos­sen wur­de. Ganz allein aus den Fin­gern gesaugt hat sich Boe­ke das Kon­zept nicht. Er wur­de vom kon­sens­ba­sier­ten Ent­schei­dungs­prin­zip der Quä­ker, deren Glau­bens­ge­mein­schaft er ange­hör­te, und vom fran­zö­si­schen Phi­lo­so­phen Augus­te Comte inspi­riert. Das Wort Sozio­kra­tie selbst lei­tet sich aus dem latei­ni­schen „soci­us“ (gemein­sam, ver­bun­den) und dem grie­chi­schen „krateia“ (Herr­schaft) ab.

Gerald Endenburg

Quel­le: http://www.transitioncville.org/2‑beyond-democracy-what-is-fundamentally-different-about-sociocracy-a-k-a-dynamic-governance/

 

Bei der Ver­öf­fent­li­chung hat­te Boe­ke schon 30 Jah­re Erfah­rung mit Sozio­kra­tie: Sei­ne 1916 gegrün­de­te Reform­schu­le (Werk­plaats­Kin­der­ge­me­en­schap) war von die­sen Hal­tun­gen und Wer­ten geprägt. Inter­es­san­ter­wei­se schick­te das nie­der­län­di­sche Königs­haus drei sei­ner Töch­ter, näm­lich Bea­trix, Ire­ne und Mag­riet, auf sei­ne Schu­le. Ein ande­rer Schü­ler, der spä­ter die Ideen von Kees Boe­ke adap­tier­te und wei­ter ent­wi­ckel­te, war Gerald Endenburg.

Enden­burg bemerk­te bei sei­nem Wech­sel von der Reform­schu­le auf eine tra­di­tio­nell orga­ni­sier­te Uni­ver­si­tät, er stu­dier­te Elek­tro­tech­nik, dass die dor­ti­gen Stu­den­ten weni­ger Ver­ant­wor­tung für ihr eige­nes Ler­nen über­nah­men, son­dern sich auf die Erfül­lung von Vor­ga­ben und frem­den Zie­len kon­zen­trier­ten. 1968 über­nahm er von sei­nen Eltern das bis heu­te exis­tie­ren­de Unter­neh­men Enden­burg Elek­tro­tech­niek BV. Immer noch inspi­riert von Kees Boe­ke und der Sozio­kra­tie krem­pel­te er, 36 Jah­re alt, das Unter­neh­men zwei Jah­re spä­ter um. Top-Down-Entscheidungen woll­te er eben­so ver­mei­den wie demo­kra­ti­sche Abstim­mun­gen, bei denen sel­ten die bes­te Lösung her­aus­kommt und oft vie­le Betei­lig­te unzu­frie­den zurück blei­ben. So ent­wi­ckel­te er schließ­lich die sozio­kra­ti­sche Kreis­or­ga­ni­sa­ti­on. Das Unter­neh­men wuchs auf 150 Mit­ar­bei­ter an. Enden­burg grün­de­te 1974 das Sozio­kra­ti­sche Zen­trum in Rot­ter­dam mit der Mis­si­on, die sozio­kra­ti­schen Prin­zi­pi­en wei­ter zu ent­wi­ckeln, er pro­mo­vier­te zum The­ma und wur­de Professor.

Die sozio­kra­ti­sche Kreis­or­ga­ni­sa­ti­on basiert auf vier Prin­zi­pi­en, die ich im fol­gen­den erkläre.

Konsent: Einwandintegration statt Mehrheitsbeschaffung

Kon­sent“ ist kein Tipp­feh­ler, son­dern eine bewuss­te Begriffs­wahl. Glück­li­cher­wei­se ist Spra­che ja ein sich ent­wi­ckeln­des Gut. Im Eng­li­schen las­sen sich con­sent und con­sen­sus unter­schei­den. Ins Deut­sche wer­den die Begrif­fe aber übli­cher­wei­se ein­heit­lich mit Kon­sens über­setzt und der Unter­schied damit auf­ge­ho­ben. Viel­leicht wären „demo­kra­ti­scher Kon­sens“ ver­sus „sozio­kra­ti­scher Kon­sens“ eine fürs Deut­sche pas­sen­de Unter­schei­dung. Die Über­set­ze­rin und Soziokratie-Aktivistin Isa­bell Dier­kes ent­schied sich aber dafür, ein neu­es Wort zu kre­ieren: Kon­sent. Die Unter­schei­dung „Kon­sens“ (= demo­kra­tisch) ver­sus „Kon­sent“ (= sozio­kra­tisch) ist viel ein­fa­cher und prä­gnan­ter. Tat­säch­lich unter­schei­det sich der sozio­kra­ti­sche Kon­sent vom demo­kra­ti­schen Kon­sens nicht nur in der Art, wie er zustan­de kommt, son­dern auch in sei­ner Qualität.

In nor­ma­len demo­kra­ti­schen Ent­schei­dun­gen lau­tet die Fra­ge immer: Wer ist dafür? Dem­entspre­chend ver­su­chen die Par­tei­en die Zustim­mung zu einer Ent­schei­dung zu maxi­mie­ren. Je nach Ver­fas­sung sind bestimm­te rela­ti­ve oder abso­lu­te Mehr­hei­ten erfor­der­lich. Auf Min­der­heits­be­dürf­nis­se wird gewöhn­lich wenig Rück­sicht genom­men. Bei knap­pen oder feh­len­den Mehr­hei­ten ist es in der Pra­xis üblich, wei­te­re Stim­men dadurch zu gewin­nen, dass man Kom­pen­sa­ti­ons­ge­schäf­te anbie­tet oder androht, bei­spiels­wei­se Vor- oder Nach­tei­le bei ande­ren anste­hen­den Ent­schei­dun­gen. Die typi­sche Ergeb­nis­qua­li­tät die­ses Wil­lens­bil­dungs­ver­fah­ren beob­ach­ten wir täg­lich in der Politik.

Bei sozio­kra­ti­schen Ent­schei­dun­gen hin­ge­gen lau­tet die Fra­ge: Wel­che Ein­wän­de gibt es? Wie vie­le Per­so­nen einen Ein­wand haben, ist dabei weni­ger wich­tig als der Inhalt des Ein­wands. Das Argu­ment zählt, nicht die Stim­me. Anschlie­ßend ver­su­chen alle Betei­lig­ten gemein­sam, die Ein­wän­de zu mini­mie­ren, also die Lösung zu vari­ie­ren oder mög­li­cher­wei­se nach ganz neu­en Lösun­gen zu suchen, so dass weni­ger oder gar kei­ne Ein­wän­de mehr übrig bleiben.

Ein wich­ti­ger Unter­schied zwi­schen einer demo­kra­ti­schen und einer sozio­kra­ti­schen Wahl besteht also dar­in, dass bei der sozio­kra­ti­schen Wahl die Betei­lig­ten sehr viel stär­ker in die inhalt­li­che (Weiter-)Entwicklung der Ent­schei­dun­gen ein­ge­bun­den sind und nicht nur Stimm­vieh sind. Wer einen Ein­wand äußert, ist auch auf­ge­for­dert dar­an mit­zu­wir­ken, die­sen Ein­wand auf­zu­lö­sen. Er wird mit der Fra­ge kon­fron­tiert: Wie kann die Lösung denn so ver­än­dert wer­den, dass dein Ein­wand ent­fällt oder schwä­cher wird? Oder wie müss­te die Lösung aus­se­hen, dass du kei­nen schwer­wie­gen­den Ein­wand mehr hast?

Anders aus­ge­drückt geht es stets dar­um, mög­li­che Ein­wän­de in die Lösung zu inte­grie­ren. Es wird nicht nur ent­schie­den, son­dern eben auch an der Qua­li­tät der Lösung gearbeitet.
Die eigent­li­che Ent­schei­dung basiert auf Vetofrei­heit, d.h. solan­ge auch nur eine Per­son ein Veto hat, ist die Ent­schei­dung nicht akzep­tiert. Mit ande­ren Wor­ten: Die Sozio­kra­tie strebt nach ein­wand­frei­en Entscheidungen.

Typi­scher­wei­se gibt es ver­schie­de­ne Gra­de von Ein­wän­den. Das Veto ist dabei der stärks­te Ein­wand. Typisch sind aber auch „Ich habe einen wich­ti­gen Ein­wand, aber ich möch­te die Ent­schei­dung nicht blo­ckie­ren“ oder „Ich habe einen rele­van­ten Ein­wand, aber trotz­dem ist die­se Ent­schei­dung bes­ser, als bei der aktu­el­len Situa­ti­on zu bleiben.“

Die Alter­na­ti­ve zu einer Ent­schei­dung ist immer die Ist-Situation. Es geht also weni­ger dar­um, ob oder wie gut eine Ent­schei­dung an sich ist, son­dern wie sie im Ver­gleich zur Ist-Situation bewer­tet wird. Das ist bei demo­kra­ti­schen Ent­schei­dun­gen zwar auch so, das Bewusst­sein davon ist bei sozio­kra­ti­schen Ent­schei­dun­gen aber typi­scher­wei­se prä­sen­ter, weil jeder Ein­zel­ne allei­ne mit einem Veto das Bei­be­hal­ten des Ist-Zustands erzwin­gen könnte.

Das heißt nun aber nicht, dass bei einer sozio­kra­ti­schen Ent­schei­dung Per­so­nen dazu nei­gen, einer Lösung zuzu­stim­men, die sie eigent­lich nicht gut fin­den – nur weil alles bes­ser scheint als der Sta­tus quo. Es gibt nicht nur entweder-oder. Bei demo­kra­ti­schen Ent­schei­dun­gen ist es mög­lich, meh­re­re Alter­na­ti­ven zur Wahl zu stel­len und die mit den meis­ten Zustim­mun­gen gewin­nen zu las­sen. Die­ses Ver­fah­ren kann als unver­bind­li­che Abfra­ge auch in einem sozio­kra­ti­schen Kon­text inter­es­sant sein, um eine Ent­schei­dung zwi­schen Alter­na­ti­ven zu ver­ein­fa­chen, bei denen kaum Vetos erwar­tet wer­den, oder um eine sinn­vol­le Ent­schei­dungs­rei­hen­fol­ge zu finden.

Grund­sätz­lich wird immer genau eine Ent­schei­dung auf ein­mal bear­bei­tet, und es liegt gewöhn­lich am Mode­ra­tor, in wel­cher Rei­hen­fol­ge die mög­li­chen Alter­na­ti­ven zur Wahl kom­men. Prin­zi­pi­ell denk­bar sind auch sequen­ti­el­le Ent­schei­dun­gen, bei der mit einer ers­ten Ent­schei­dung eine Ver­bes­se­rung gegen­über dem Ist-Zustand erreicht wird und gleich danach mit einer wei­te­ren Ent­schei­dung ver­sucht wird, die­sen neu­en Zustand noch­mals zu ver­bes­sern. Das heißt, die eigent­lich alter­na­ti­ven Ent­schei­dun­gen wer­den auf­stei­gend nach dem Grad ihrer Gesamt­ein­wän­de geord­net und nach­ein­an­der bearbeitet.

Das sozio­kra­ti­sche Prin­zip erlaubt den Betei­lig­ten dar­über hin­aus auch, sich im Kon­sent für ande­re Ent­schei­dungs­ver­fah­ren wie Münz­wurf, rela­ti­ve Mehr­heit, Dik­ta­tur und vor allem den kon­sul­ta­ti­ven Ein­zel­ent­scheid zu ent­schei­den. Dazu spä­ter mehr.

Kreisprinzip: Führungskreise statt Abteilungen, Führungsarbeit statt Führungskräfte

In tra­di­tio­nel­len Lini­en­or­ga­ni­sa­tio­nen wer­den Abtei­lun­gen für bestimm­te Zustän­dig­keits­be­rei­che gebil­det, die von einer eigens dafür bestimm­ten Füh­rungs­kraft gelei­tet wer­den. Die Ver­ant­wor­tung für die Ent­schei­dung liegt stets bei die­ser Füh­rungs­kraft – auch wenn die­se selbst­ver­ständ­lich ihre Mit­ar­bei­ter in Ent­schei­dun­gen ein­bin­den kann.

Pyramidenförimge Linienorgansiation

Pyra­mi­den­förim­ge Linienorgansiation

In einem sozio­kra­ti­schen Füh­rungs­kreis hin­ge­gen tei­len sich alle Kreis­mit­glie­der die Ver­ant­wor­tung. Jeder leis­tet einen Teil der Füh­rungs­ar­beit. Zum einen dadurch, dass der Kreis mit Hil­fe des Konsent-Prinzips gemein­sam direkt Ent­schei­dun­gen trifft. Zum ande­ren aber auch dadurch, dass der Kreis bestimm­te Aspek­te und Teil­zu­stän­dig­kei­ten an ein­zel­ne Mit­glie­der (hier auch: kon­sul­ta­ti­ver Ein­zel­ent­scheid) dele­giert bzw. Rol­len defi­niert und Rol­len­in­ha­ber wählt.

Dadurch kann bei­spiels­wei­se eine Per­son als Reprä­sen­tant für einen Ober­kreis gewählt sein, eine ande­re Per­son die Koor­di­na­ti­on der Kreis­in­ter­es­sen mit einem ande­ren (Nachbar-)Kreis wahr­neh­men (sie­he hier­zu das 3. Prin­zip der Dop­pel­ver­bin­der) und noch eine ande­re Per­son viel­leicht als all­ge­mei­ner Ansprech­part­ner für alle Außen­ste­hen­den zu einer bestimm­ten Fra­ge­stel­lung defi­niert werden.

Der Kreis orga­ni­siert sich selbst und bestimmt selbst, wel­che Rol­len, Ansprech­part­ner, Teil­zu­stän­dig­kei­ten und Dele­ga­tio­nen er haben möch­te, wie und wo sich der Kreis trifft, wer Mit­glied im Kreis sein darf etc. Anders als bei Abtei­lun­gen kann eine Per­son in meh­re­ren Krei­sen Mit­glied sein. Krei­se kön­nen zudem hier­ar­chisch orga­ni­siert sein, d.h. ein Kreis kann meh­re­re Unter­krei­se für bestimm­te Ver­ant­wor­tungs­be­rei­che bilden.

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Gegen­über dem Abtei­lungs­prin­zip führt das Kreis­prin­zip dazu, dass Ent­schei­dun­gen unmit­tel­ba­rer und loka­ler getrof­fen wer­den. Eine hier­ar­chi­sche Lini­en­or­ga­ni­sa­ti­on för­dert das Prin­zip „Oben wird gedacht und unten wird gemacht“, d.h. das Wis­sen von der Basis fließt von unten nach oben, wird dabei ver­dich­tet und ver­fälscht, damit die Füh­rungs­kräf­te dann zen­tral Ent­schei­dun­gen tref­fen und ver­ant­wor­ten kön­nen. Das Kreis­prin­zip för­dert hin­ge­gen, das Den­ken und Han­deln nahe bei­ein­an­der blei­ben, in dem die Betrof­fe­nen selbst Ent­schei­dun­gen initi­ie­ren und ver­ant­wor­ten können.

Es wäre schön, behaup­ten zu kön­nen, dass die so getrof­fe­nen Ent­schei­dun­gen das Wohl aller best­mög­lich berück­sich­ti­gen. Aber selbst­ver­ständ­lich kön­nen auch hier Inter­es­sens­kon­flik­te auf­tau­chen. Die Krei­se die­nen der Gesamt­or­ga­ni­sa­ti­on, sind also letzt­end­lich dem Unter­neh­mens­zweck und den Unter­neh­mens­zie­len unter­wor­fen. Den­noch haben alle betei­lig­ten Per­so­nen selbst­ver­ständ­lich auch Eigen­in­ter­es­sen. So wie auch in tra­di­tio­nel­len Lini­en­or­ga­ni­sa­tio­nen die Füh­rungs­kräf­te nicht rein sach­lich und objek­tiv ent­schei­den, son­dern auch von ihren Ängs­ten, Inter­es­sen, Bedürf­nis­sen etc. beein­flusst sind, so tref­fen auch in einer sozio­kra­ti­schen Kreis­struk­tur indi­vi­du­el­le und gemein­schaft­li­che Inter­es­sen aufeinander.

Am deut­lichs­ten wird dies bei schwer­wie­gen­den Ent­schei­dun­gen mit mas­si­ven per­sön­li­chen Kon­se­quen­zen. Wenn bei­spiels­wei­se in einer wirt­schaft­li­chen Kri­sen­si­tua­ti­on Mit­ar­bei­ter­ein­kom­men nicht mehr bezahlt wer­den kön­nen. Oder wenn Geschäfts­be­rei­che auf­ge­ge­ben wer­den sol­len und es an Ideen man­gelt, die betrof­fe­nen Mit­ar­bei­ter ander­wei­tig in eine Wert­schöp­fung zu brin­gen. Zunächst ein­mal gilt es auch und gera­de in sol­chen exis­ten­ti­el­len Situa­tio­nen dem Konsent-Prinzip zu fol­gen. Denn gera­de in sol­chen Situa­tio­nen sind gute Ideen gefragt. So konn­te Enden­burg Elek­tro­tech­niek 1976 eine Kri­se mit 60 dro­hen­den Ent­las­sun­gen dadurch meis­tern, dass die Mit­ar­bei­ter eige­ne Vertriebs- und Mar­ke­ting­ideen ent­wi­ckel­ten und eigen­ver­ant­wort­lich umsetz­ten. Aber was ist für den Fall, dass auch dies nicht aus­reicht? Wenn nicht genug Ideen vor­han­den sind oder sich die­se nicht erfolg­reich genug umset­zen lassen?

Kann im Kon­sent dar­über ent­schie­den wer­den, einen nen­nens­wer­ten Teil der Betrof­fe­nen betriebs­be­dingt zu kün­di­gen? Kann man von den Betrof­fe­nen erwar­ten, dass sie auch dann noch im Unter­neh­mens­in­ter­es­se han­deln, wenn sie selbst dadurch aus dem Unter­neh­men fal­len? Die Wahr­schein­lich­keit, zu sol­chen Fra­gen eine ein­wand­freie oder gar vetofreie Ent­schei­dung zu erzie­len, ist offen­sicht­lich gering.

Die Absicht, durch gute Mode­ra­ti­on des Ent­schei­dungs­pro­zes­ses immer wie­der auf die Unter­neh­mens­in­ter­es­sen zu refo­kus­sie­ren und das Per­sön­li­che aus­zu­blen­den (wie dies bspw. im Holacracy-Einwandintegrationsverfahren ange­strebt wird), fin­de ich nicht über­zeu­gend, weil sie an der Inte­gri­tät und Authen­ti­zi­tät der Indi­vi­du­en zerrt. Für sol­che und ähn­li­che schwie­ri­ge Situa­tio­nen gibt es eine alter­na­ti­ve, zwei­stu­fi­ge Ent­schei­dungs­fin­dungs­me­tho­de: den kon­sul­ta­ti­ven Ein­zel­ent­scheid. Dabei wird zuerst im Kon­sent eine Per­son gewählt, die im zwei­ten Schritt dann zwar die ver­schie­de­nen Inter­es­sen und Ideen wahr­nimmt und wür­digt, letzt­end­lich die Ent­schei­dung aber allei­ne und für alle ande­ren ver­bind­lich trifft. Die­ser Ein­zel­ent­schei­der kann im Zwei­fels­fall auch eine kreis­frem­de Per­son sein oder gar eine unter­neh­mens­frem­de Per­son – ähn­lich wie bei Schlich­tungs­ver­fah­ren. Kurz: immer dann, wenn die Kreis­mit­glie­der erken­nen, dass sie zwar eine Ent­schei­dung brau­chen, aber eine direk­te sozio­kra­ti­sche Ent­schei­dung unwahr­schein­lich (inef­fek­tiv) oder zu zeit­rau­bend (inef­fi­zi­ent) erscheint, liegt der kon­sul­ta­ti­ve Ein­zel­ent­scheid als Alter­na­ti­ve nahe.

Prinzip Doppelverbinder

Wie schon erwähnt, kann ein sozio­kra­ti­scher Kreis sich so struk­tu­rie­ren, dass er meh­re­re Unter­krei­se bil­det. Sie exis­tie­ren aber nicht unver­bun­den neben­ein­an­der, son­dern ver­bin­den sich durch Reprä­sen­tan­ten. Das Doppelverbinder-Prinzip besagt, dass hier­bei nicht nur jemand aus einem Ober­kreis einen Unter­kreis koor­di­niert oder führt, son­dern dass eben­so der Unter­kreis einen Reprä­sen­tan­ten in den Ober­kreis ent­sen­det. Und das die­se bei­den Ver­bin­der selbst­ver­ständ­lich ver­schie­de­ne Per­so­nen sind. Dadurch sind immer min­des­tens zwei Per­so­nen in bei­den der ver­bun­de­nen Kreise.

In einem Kreis hat jedes Mit­glied das glei­che Stim­men­ge­wicht, so dass die über Ent­schei­dungs­stim­men aus­ge­üb­te Macht beim sozio­kra­ti­schen Kreis­mo­dell nicht nur von oben nach unten, son­dern eben­so auch von unten nach oben ver­läuft. Wenn die Krei­se pyra­mi­den­för­mig dif­fe­ren­ziert wer­den, also ein Kreis typi­scher­wei­se meh­re­re Unter­krei­se hat, sind die Ver­tre­ter der Unter­krei­se im Ober­kreis sogar in der Mehr­heit. Zusam­men mit dem Kon­sent­prin­zip ist damit sicher­ge­stellt, dass die Inter­es­sen, Bedürf­nis­se und Ideen der Unter­krei­se über ihre Reprä­sen­tan­ten abso­lu­ten Ein­fluss aus­üben. Wegen der Veto­mög­lich­keit von unten kann die Macht von oben allei­ne nicht wirk­sam werden.

Inso­fern las­sen sich mit dem Doppelverbinder-Prinzip auch hier­ar­chi­sche Pyra­mi­den­struk­tu­ren betrei­ben – nur das hier­bei aus Sicht der Macht­ver­tei­lung die Pyra­mi­de auf dem Kopf steht.
Das sozio­kra­ti­sche Kreis­mo­dell unter­stützt also eine – aus mei­ner Sicht grund­sätz­lich sinn­vol­le und hilf­rei­che – Hier­ar­chi­sie­rung der Entscheidungs‑, Willensbildungs- und Füh­rungs­struk­tu­ren. Hier­ar­chie wird zwar oft­mals leicht­fer­tig ver­teu­felt, gemeint sind dann aber meis­tens die oben bereits genann­ten nega­ti­ven Aspek­te wie bei­spiels­wei­se die Tren­nung von Den­ken und Han­deln oder die Rich­tung des Macht­ge­fäl­les. In sozia­len Sys­te­men bil­den Men­schen Hier­ar­chien aus. Immer. Wenn man Macht als etwas begreift, wo ein Mensch einem ande­ren ver­trau­ens­voll Macht über sich zubil­ligt, dann ist nahe­lie­gend, dass Macht eben­so ungleich und unste­tig ver­teilt ist, wie Ver­trau­en sich ent­wi­ckelt. Pro­ble­ma­tisch wird Hier­ar­chie immer dann, wenn die for­ma­le und offi­zi­el­le Hier­ar­chie nicht zu der als ange­mes­sen emp­fun­de­nen passt oder sie nicht (mehr) an den Inhal­ten ori­en­tiert ist. In Lini­en­or­ga­ni­sa­tio­nen, in denen die Hier­ar­chie pyra­mi­den­för­mig von oben nach unten an Rol­len und Per­so­nen ori­en­tiert auf­ge­baut wird, ist es wahr­schein­li­cher, dass die­se im Wider­spruch zur der von unten nach oben ver­lau­fen­den sozia­len Legi­ti­ma­ti­on von Macht steht.

Das sozio­kra­ti­sche Kreis­mo­dell dage­gen struk­tu­riert die Hier­ar­chie stär­ker ent­lang der Inhal­te und Zustän­dig­kei­ten, und erst aus die­ser hier­ar­chi­schen Struk­tur her­aus bil­den dann die Krei­se ihre Rol­len und wäh­len die Rol­len­trä­ger. Das kommt der sozia­len Rea­li­tät meis­tens näher.

Sofern Reprä­sen­tan­ten aber nicht nur ent­lang der ver­ti­ka­len Hier­ar­chie ein­ge­setzt wer­den, son­dern auch zwi­schen benach­bar­ten bzw. bedarfs­wei­se mit belie­bi­gen ande­ren Krei­sen ein­ge­setzt wer­den, lässt sich eben­so eine dyna­mi­sche Netz­werk­struk­tur erzeu­gen. Aus mei­ner Sicht ist der Aus­tausch von Reprä­sen­tan­ten zwi­schen Krei­sen immer dann sinn­voll, wenn sie einen ste­ti­gen und hohen Kooperations- oder Koor­di­na­ti­ons­be­darf haben.

Ande­rer­seits kann das Doppelverbinder-Prinzip auch auf­wän­dig wer­den, zu sehr gro­ßen Krei­sen füh­ren und sich büro­kra­tisch anfüh­len. Des­we­gen fin­de ich es legi­tim, wenn ein­zel­ne Krei­se für sich ent­schei­den, an bestimm­ten Stel­len nur ein­sei­ti­ge Reprä­sen­tan­zen zu unter­hal­ten, bei­spiels­wei­se nur von unten nach oben. Das sozio­kra­ti­sche Modell kann also ganz prag­ma­tisch gehand­habt werden.

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Wie lässt sich ein sozio­kra­ti­sches Kreis­mo­dell in eine tra­di­tio­nel­le Lini­en­or­ga­ni­sa­ti­on ein­füh­ren? Da das sozio­kra­ti­sche Kreis­mo­dell auch hier­ar­chisch geglie­dert wer­den kann, ist es mög­lich, eine bestehen­de Linien- und Abtei­lungs­or­ga­ni­sa­ti­on durch ein sozio­kra­ti­sches Kreis­mo­dell zu über­la­gern. Bei­spiels­wei­se, indem die ope­ra­ti­ve Arbeits­tei­lung wei­ter­hin abtei­lungs­mä­ßig orga­ni­siert ist und die Füh­rung und Ent­schei­dun­gen (vom glei­chen oder ähn­li­chen Per­so­nen­kreis) in Krei­sen. Auch kann bei einem Wech­sel vom Abteilungs- zum Kreis­mo­dell die Abtei­lungs­struk­tur als initia­le Struk­tur und Vor­la­ge für das Kreis­mo­dell ver­wen­det werden.

Prinzip Personenwahl

Die­ses Prin­zip wur­de in den vor­an­ge­gan­ge­nen Aus­füh­run­gen schon erwähnt: Wer wel­che Rol­len oder Ent­schei­dun­gen über­nimmt, wird im Kon­sent ent­schie­den. Rol­len und Ver­ant­wor­tung kön­nen situa­tiv für ein­zel­ne Ent­schei­dungs­be­dar­fe über­tra­gen wer­den (wie beim kon­sul­ta­ti­ven Ein­zel­ent­scheid), auf Zeit ver­ge­ben wer­den und eben­so jeder­zeit auch neu­be­stimmt oder auf­ge­ho­ben werden.

Praxis

In der Lite­ra­tur und im Inter­net fin­den sich vie­le Hin­wei­se auf klei­ne und gro­ße Unter­neh­men, die das sozio­kra­ti­sche Kreis­mo­dell in der einen oder ande­ren Wei­se anwen­den. Aus der Pra­xis ken­ne ich unter­schied­li­che Aus­prä­gun­gen und Inter­pre­ta­tio­nen des Modells, die jedoch von den glei­chen Wer­ten getra­gen wer­den. Exem­pla­risch möch­te ich die Pra­xis bei oose skiz­zie­ren, wo ich die Ein­füh­rung des Kreis­mo­dells Ende 2012 initi­iert hatte.

Bei oose ori­en­tier­ten wir uns zunächst an Hol­acra­cy, einem ganz ähn­li­chen Modell, das mir per­sön­lich aber mitt­ler­wei­le ein wenig zu büro­kra­tisch und mar­ken­recht­lich zu kom­mer­zia­li­siert erscheint. Ange­sichts der Kon­zep­te und Prin­zi­pi­en, die wir mitt­ler­wei­le tat­säch­lich nut­zen, sind wir ver­mut­lich dem sozio­kra­ti­schen Kreis­mo­dell näher. Unse­re kur­zen eige­nen Erfah­run­gen fin­de ich eben­so ermu­ti­gend wie her­aus­for­dernd. Wir spü­ren und freu­en uns über Nut­zen und Wir­kung, bei­spiels­wei­se schnel­le­re geschäft­li­che Ent­schei­dun­gen oder Ent­schei­dun­gen zur Neu­ein­stel­lung von Mit­ar­bei­tern. Mit­ar­bei­ter in der direk­ten Wert­schöp­fung und mit unmit­tel­ba­rer Nähe zum Markt tref­fen die geschäft­lich rele­van­ten Ent­schei­dun­gen. Wir funk­tio­nie­ren also (sie­he Abbil­dung Pfir­sich­mo­dell) mehr von außen nach innen getrie­ben, als von oben nach unten. Eben­so mer­ken wir, dass wir Vie­les erst noch üben, aus­pro­bie­ren und adap­tie­ren müs­sen. Viel­leicht hört die­ser Lern­pro­zess aber auch nie auf. Für eine objek­ti­ve und gar quan­ti­fi­zier­ba­re Erfolgs­be­wer­tung ist es bei uns ver­mut­lich zu früh.

Das Pfirsichmodell

Das Pfir­sich­mo­dell

Unse­re Krei­se sind hier­ar­chisch von innen nach außen in drei (teil­wei­se vier) Ebe­nen auf­ge­baut. Wo immer sinn­voll fol­gen wir dem Konsent-Prinzip und eben­so dem Personenwahl-Prinzip. Dop­pel­ver­bin­der nut­zen wir aus Prag­ma­tis­mus nicht mehr. Wir sind ein klei­nes Unter­neh­men mit zahl­rei­chen Gele­gen­hei­ten und Ritua­len zum inter­nen per­sön­li­chen und fach­li­chen Aus­tausch, wes­we­gen wir in den Dop­pel­ver­bin­dern viel­leicht nicht genug Zusatz­nut­zen sehen.

Wie schon gesagt, wird das Kreis­mo­dell auch oft als Über­la­ge­rung einer bestehen­den Abtei­lungs­struk­tur gese­hen: Krei­se für die Füh­rung und Abtei­lun­gen für die ope­ra­ti­ve Arbeit. Bei oose ver­zich­ten wir for­mal auf Abtei­lun­gen und kon­zen­trie­ren uns aus­schließ­lich auf die Füh­rungs­aspek­te. Die ope­ra­ti­ve Arbeit ergibt sich von allei­ne. Soweit bei oose Abtei­lungs­ge­füh­le exis­tie­ren, erge­ben die­se sich mehr durch die fak­ti­sche räum­li­che Nähe von KollegInnen.

Bis­her ver­läuft das Expe­ri­ment sozio­kra­ti­sche Kreis­or­ga­ni­sa­ti­on bei oose ermutigend.

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