Warum Agilität ganz oben verstanden werden sollte

Hal­lo Herr Oes­te­reich, wir sind ein gro­ßes Unter­neh­men und ste­hen wie alle ande­ren vor der Her­aus­for­de­rung, unse­re Anpas­sungs­fä­hig­keit zu erhö­hen, […] Digi­ta­li­sie­rung […] agi­ler wer­den […] ande­re Hal­tung […] moder­ne Führungs- und Orga­ni­sa­ti­ons­kul­tur […] und inno­va­ti­ver. Für ein in Kür­ze statt­fin­den­des Tref­fen unse­rer ca. 160 obers­ten Füh­rungs­kräf­te [wahl­wei­se: unse­rer HR-Abteilung] suchen wir einen Impuls­vor­trag oder Kurz-Workshop hierzu. 

Soweit die Stan­dard­an­fra­ge, die der­zeit vie­le Unter­neh­men an Spre­cher und Bera­ter wie mich ver­sen­den. Natür­lich füh­le ich mich geehrt und mein Ego wird geschmei­chelt. Und doch mag ich meis­tens kaum glau­ben, dass die­se Vor­ge­hens­wei­se das Unter­neh­men wirk­lich vor­an­brin­gen wird und über­las­se daher ande­ren den Auf­tritt. Im Fol­gen­den erläu­te­re ich, warum.

Immer weni­ger Unter­neh­men kön­nen sich den neu­en Her­aus­for­de­run­gen für Füh­rung und Orga­ni­sa­ti­on ver­wei­gern. Und doch tun sie sich schwer, denn sie wis­sen nicht, was statt­des­sen. Also wird erst­mal all­ge­mein die Auf­merk­sam­keit auf das The­ma gelenkt, wer­den Mit­ar­bei­ter und Füh­rungs­kräf­te infor­miert, neue Ideen ange­regt und rein­ge­tra­gen, Schu­lun­gen und Work­shops gebucht, Dis­kur­se und Denk­räu­me für alle eröff­net. Ich fin­de dies alles zur Unter­stüt­zung sinn­voll und hilf­reich, jedoch nicht hin­rei­chend. Ganz abge­sehn davon, dass es mir manch­mal rein aktio­nis­tisch erscheint, was das Gefühl der Dring­lich­keit sogar wie­der dämp­fen könnte.

Die Ver­ant­wor­tung für die grund­sätz­li­chen Organisations- und Füh­rungs­prin­zi­pi­en in einem Unter­neh­men obliegt der obers­ten Füh­rung. Zual­ler­erst ist die Gesell­schaf­ter­ver­samm­lung ver­ant­wort­lich. Mit der Beset­zung des Vor­stands oder der Geschäfts­füh­rung geben sie die Rich­tung vor. Und die­se Vor­stän­de oder Geschäfts­füh­re­rin­nen müs­sen dann dazu pas­sen­de Organisations- und Füh­rungs­prin­zi­pi­en intern einführen.

Die Trans­for­ma­ti­on einer pyra­mi­da­len Linien- oder Matrix­or­ga­ni­sa­ti­on zu einer agi­len Kreis­or­ga­ni­sa­ti­on oder ähn­li­chem muss von der obers­ten Füh­rung ver­stan­den und gewollt sein. Wenn alle im Unter­neh­men sich mit sol­chen Fra­gen beschäf­ti­gen, die Top­füh­rungs­kräf­te aber Not­wen­dig­keit, Nut­zen, Grund­prin­zi­pi­en und Impli­ka­tio­nen nicht aus­rei­chend ver­ste­hen, dann ist die Gefahr zu groß, dass die nächst­bes­ten Rück­fäl­le zum Abbruch oder wei­te­rem Aktio­nis­mus führen.

So hilf­reich und bequem es ist, wenn vie­le Füh­rungs­kräf­te und Mit­ar­bei­ter Fähig­kei­ten und Wis­sen hier­zu aus­bau­en, die Top­ebe­ne wird dadurch nicht aus der Ver­ant­wor­tung genom­men. Viel­leicht klingt es para­dox, dass die Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on mit einem Akt der Fremd­be­stim­mung beginnt. Dabei mei­ne ich nicht, dass die Top­ebe­ne auto­kra­tisch eine “Agi­li­sie­rung” anord­nen soll­te. Viel­mehr glau­be ich, dass die Top­ebe­ne ein eige­nes tie­fes Ver­ständ­nis von dem Trans­for­ma­ti­ons­vor­ha­ben erlan­gen soll­te, damit sie wirk­lich kon­se­quent han­deln kann. Damit sie klä­ren kann, ob und wie die not­wen­di­gen Rah­men­be­din­gun­gen über­haupt her­ge­stellt wer­den kön­nen, damit die­se Rah­men­be­din­gun­gen dann tat­säch­lich bereit­ge­stellt wer­den und damit der orga­ni­sa­tio­na­le Lern­raum auch robust gehal­ten wer­den kann.

Des­we­gen arbei­te ich so ger­ne mit der Top­ebe­ne, vor­zugs­wei­se von inha­ber­ge­führ­ten Orga­ni­sa­tio­nen, damit die­se die weni­gen wich­ti­gen Grund­prin­zi­pi­en radi­kal (im Sin­ne: von der Wur­zel her) ver­ste­hen. Sie müs­sen den Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess nicht selbst betrei­ben, aber sie soll­ten in eman­zi­pa­to­ri­scher Wei­se wirk­lich über­zeugt sein.

Keine Selbstüberlassung

Auf die­ser Basis auf­bau­end kön­nen dann suk­zes­si­ve die ver­schie­dens­ten Ver­än­de­run­gen erprobt wer­den. Nie­mand wird kau­sal vor­her­se­hen kön­nen, wel­che kon­kre­ten agi­len Struk­tu­ren und Pro­zes­se für eine bestimm­te Orga­ni­sa­ti­on nütz­lich sein wer­den. Des­we­gen bedeu­tet Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on aber noch lan­ge nicht Selbst­über­las­sung. Wir kön­nen und müs­sen eine siche­re Start­si­tua­ti­on auf der Meta­ebe­ne her­stel­len, also Meta­pro­zes­se und ‑struk­tu­ren, mit denen empirisch-evolutionär das orga­ni­sa­tio­na­le Ler­nen mög­lich wird. Ein zir­ku­lä­res Vor­ge­hen, um sich selbst aus dem Sumpf zu zie­hen. Dies bezeich­nen wir als agi­le Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung und unter­schei­den es von “Change-Projekten”.

Keine Change-Projekte

Ver­än­de­rungs­pro­jek­te haben meis­tens das Ziel, bestimm­te neue Struk­tu­ren und Pro­zes­se zu eta­blie­ren und manch­mal auch, ein ande­res Ver­hal­ten der Mit­ar­bei­ter zu pro­vo­zie­ren. Ein Pro­jekt ist ein ziel­ge­rich­te­tes und ein­ma­li­ges Vor­ha­ben auf kau­sa­ler Basis. Agi­le Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung hin­ge­gen ist die kon­ti­nu­ier­li­che Anpas­sung und Wei­ter­ent­wick­lung der Orga­ni­sa­ti­on in klei­nen ergeb­nis­of­fe­nen und  Erfah­rung gewin­nen­den Schrit­ten. Selbst die Trans­for­ma­ti­on von der pro­jekt­ge­trie­be­nen zur agi­len Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung ver­su­chen wir agil zu gestal­ten. Auch ist die Eta­blie­rung von Meta­struk­tu­ren und ‑pro­zes­sen nur eine mit­tel­ba­re und kei­ne unmit­tel­ba­re Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung, wie dies bei “Change-Projekten” üblich ist.

Kein neues “organisatorischen Betriebssystems”

Und es geht auch nicht um “die Ein­füh­rung eines neu­en orga­ni­sa­to­ri­schen Betriebs­sys­tems”. Für den Tay­lo­ris­mus mag dies eine hilf­rei­che Meta­pher sein. In einem post­tay­lo­ris­ti­schen sozia­len Sys­tem kön­nen kei­ne neu­en Rou­ti­nen wie bei einem Update vor­ge­ge­ben wer­den, weil die­se schritt­wei­se empi­risch zu ent­wi­ckeln oder zu adap­tie­ren sind. Außer­dem beinhal­ten abrup­te Ver­än­de­run­gen viel zu gro­ße Ver­un­si­che­run­gen, Risi­ken, Zumu­tun­gen, grup­pen­dy­na­mi­sche Effek­te etc. Sie pro­vo­zie­ren eine Über­las­tung der Orga­ni­sa­ti­on, denen sich die Mit­ar­bei­ter dann in intel­li­gen­ter Wei­se ver­wei­gern, um wie­der der eigent­li­chen und wert­schöp­fen­den Arbeit nach­ge­hen zu können.

Keine Agilisierungs-Appelle

Die Ent­schei­dung über die not­wen­di­gen Rah­men­be­din­gun­gen und die pas­sen­den initia­len Meta­struk­tu­ren und ‑pro­zes­se ist Sache der Top­füh­rung. Ich kann mir kaum vor­stel­len, dass dut­zen­de oder hun­der­te Füh­rungs­kräf­te in einem gemein­sa­men Pro­zess dar­über ent­schei­den soll­ten oder könn­ten. Deren teu­re und auf­wän­di­ge Ein­be­zie­hung und die wei­te­rer Mit­ar­bei­ter kann viel kla­rer, kraft­vol­ler und ziel­ge­rich­te­ter gestal­tet wer­den, wenn die Top­füh­rung sicher ori­en­tiert ist und eine belast­ba­re Stra­te­gie hat. Bes­ten­falls scha­det eine ande­re Rei­hen­fol­ge nicht. Viel sinn­vol­ler fin­de ich, erst das Top­ma­nage­ment zu bera­ten und durch einen Orientierungs-Workshop zu füh­ren. Ein Appell “Ihr müsst jetzt agi­ler wer­den” in Ver­bin­dung mit inspi­rie­ren­den aber letzt­end­lich all­ge­mei­nen Impuls­vor­trä­gen, Infor­ma­ti­ons­ver­an­stal­tun­gen oder Schu­lun­gen ist nicht hin­rei­chend. Sie ber­gen sogar die Gefahr, als Aktio­nis­mus zu ver­san­den. Gefragt sind kon­kre­te Rah­men­be­din­gun­gen und eine Idee für ein Meta­vor­ge­hen, um neue For­men der Arbeit, Füh­rung und Koope­ra­ti­on schritt­wei­se zu erproben.

Füh­rungs­kräf­te und Mit­ar­bei­ter sol­len eigen­ver­ant­wort­li­cher han­deln. Das pro­vo­ziert man aber nicht durch Appel­le, Anrei­ze oder Infor­ma­ti­on. Son­dern durch pas­sen­de Rah­men­be­din­gun­gen. Sie müssen

  • Sicher­heit gewin­nen, was wie kol­le­gi­al gestalt­bar ist und was nicht,
  • Sicher­heit gewin­nen, mit wel­chen Struk­tu­ren und Pro­zes­sen sie die kol­le­gia­le Füh­rung begin­nen können,
  • wie­der in direk­ten und fühl­ba­ren Kon­takt mit den geschäft­li­chen Pro­ble­men kom­men und
  • Mög­lich­kei­ten erhal­ten, aus dem eige­nen Han­deln ler­nen zu können.

Der Rest geschieht von selbst.

Zusammenfassung

Des­we­gen hin­ter­fra­ge ich, wenn ich ent­spre­chen­de Anfra­gen zu Impuls­vor­trä­gen und ‑Work­shops erhal­te, immer erst den Ori­en­tie­rungs­zu­stand und die Ent­schie­den­heit beim Top­ma­nage­ment. War­um und wel­che kon­kre­ten Rah­men­be­din­gun­gen und Metaele­men­te bie­tet das Top­ma­nage­ment der Orga­ni­sa­ti­on für die Trans­for­ma­ti­on? Wird die Orga­ni­sa­ti­on ange­regt, bekann­te Mus­ter zu repro­du­zie­ren oder wird wirk­lich ein neu­er Raum eröff­net? Über­lässt das Top­ma­nage­ment die Füh­rungs­kräf­te oder HR-Abteilung sich selbst mit den Her­aus­for­de­run­gen oder führt sie die­se durch kom­pe­ten­te stra­te­gi­sche Ent­schei­dun­gen und Rah­men­set­zun­gen? Ist es nur mehr vom Glei­chen oder ein ernst­haf­ter Musterwechsel?

Eine Ent­wick­lung hin zu einer agi­le­ren Orga­ni­sa­ti­on gelingt mei­ner Erfah­rung nach also durch:

  • Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on statt Selbst­über­las­sung: Es soll­ten initia­le aber adap­ti­ve Meta­pro­zes­se, Struk­tu­ren und Rah­men­be­din­gun­gen vor­ge­ge­ben wer­den. Erfah­re­ne Bera­te­rin­nen soll­ten zur Her­stel­lung von Struktur- und Pro­zess­si­cher­heit Mus­ter, Rezep­te und gute Prak­ti­ken (für die Meta­ebe­ne) anbie­ten statt eine Unter­struk­tu­riert­heit zu ideologisieren.
  • Evo­lu­tio­nä­re Ent­wick­lung statt Change-Projekte: Es soll­te ein Ein­ver­neh­men und die Bereit­schaft unter allen Betei­lig­ten (begin­nend Inhabern/Geschäftsführern) exis­tie­ren, ergeb­nis­of­fen Erfah­run­gen zu gewin­nen. Zie­le engen Ent­wick­lun­gen ein, Rah­men­be­din­gun­gen öffnen.
  • Frei­räu­me und Geduld statt Über­for­de­rung und Dis­rup­ti­on im Über­gang: Es soll­ten ange­mes­se­ne zeit­li­che, per­so­nel­le und wirt­schaft­li­che Frei­räu­me bereit­ge­stellt wer­den kön­nen. Eine agi­le Orga­ni­sa­ti­on unter­bricht (engl. to dis­rupt) im Ergeb­nis alte Mus­ter – der Über­gang dahin ist idea­ler­wei­se evolutionär.

 

Dieser Beitrag hat einen Kommentar
  1. Vie­len Dank für die sehr gelun­ge­ne Dar­stel­lung der Situa­ti­on. Ich möch­te ger­ne die Dar­stel­lung auf klei­ne und mitt­le­re Unter­neh­men erwei­tern. Dort sind zwar die Wege kür­zer, die han­deln­den Per­so­nen, in den unter­schied­li­chen Ebe­nen, haben aber die glei­chen, hier beschrie­be­nen Her­aus­for­de­run­gen, für sich zu ent­schei­den. Ist eine Ver­än­de­rung jetzt mehr Chan­ce oder ver­su­che ich den Sta­tus Quo auf­recht zu erhal­ten so lan­ge es irgend­wie geht.

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