Was ist Digitalisierung und was hat agile Organisationsentwicklung damit zu tun?

Unse­re Orga­ni­sa­tio­nen wer­den in die Zan­ge genom­men: Sie sind gefor­dert, wie seit Beginn des Tay­lo­ris­mus, ihre Pro­duk­ti­vi­tät und Effi­zi­ent kon­ti­nu­ier­lich zu stei­gern. Und seit eini­ge Zeit ste­hen sie zusätz­lich vor der Her­aus­for­de­rung, ihre Anpas­sungs­fä­hig­keit sys­te­ma­tisch zu erhö­hen. Und in die­sem Kon­text wird jetzt der Begriff Digi­ta­li­sie­rung stra­pa­ziert. Was ist damit eigent­lich gemeint?

Die Stei­ge­rung von Effi­zi­enz und Pro­duk­ti­vi­tät ist seit über 100 Jah­ren das gro­ße The­ma in der Wirtschaft:

  • Zu Beginn des Tay­lo­ris­mus ging es dabei um die Stan­dar­di­sie­rung von Abläu­fen bspw. durch Fließ­band­ar­beit. Damit wur­den Pro­duk­ti­vi­täts­ge­win­ne um den Fak­tor 10 – 100 erzielt.
  • In den 1970er und 1980er Jah­ren wur­den Auto­ma­ti­sie­rung, EDV und spä­ter Robo­ti­sie­rung wichtiger.
  • Seit den 2010er Jah­ren hei­ßen die The­men Digi­ta­li­sie­rung und Big Data.

Wäh­rend die Pro­duk­ti­vi­täts­stei­ge­run­gen zu Beginn des Tay­lo­ris­mus noch mit viel Kapi­tal erkauft wer­den muss­ten, bei­spiels­wei­se um Fabri­ken zu bau­en, lau­fen die Grenz­kos­ten digi­ta­li­sier­ter Pro­zes­se gegen Null. So wie der Tay­lo­ris­mus durch sei­ne Kapi­tal­an­for­de­run­gen eher grö­ße­re Unter­neh­men bevor­zug­te, so sind gro­ße Unter­neh­men im Zeit­al­ter der Digi­ta­li­sie­rung eher ein Resultat.

Sobald bestimm­te Digi­ta­li­sie­rungs­stra­te­gien grei­fen, wer­den die Unter­neh­men immer mäch­ti­ger und rei­cher bis hin zur Mono­pol­bil­dung. Sie müs­sen ihre Gewin­ne gar nicht mehr für Pro­duk­ti­ons­stei­ge­run­gen reinves­tie­ren, son­dern bekom­men die­se dank ver­nach­läs­sig­ba­rer Grenz­kos­ten fast kos­ten­los (Grenz­kos­ten sind die­je­ni­gen Kos­ten, die durch die Her­stel­lung einer zusätz­li­chen Men­gen­ein­heit eines Pro­duk­tes oder einer Dienst­leis­tung entstehen).

Digitalisierung und Grenzkostenausbeutung

Digi­ta­li­sie­rung hat sehr unter­schied­li­che Facetten:

  • Digi­ta­li­sie­rung ist die Aus­deh­nung der Auto­ma­ti­sie­rung bis an die Schnitt­stel­le von Kun­den, Lie­fe­ran­ten und Geschäfts­part­nern und dar­über hin­aus. Wo frü­her Mit­ar­bei­ter einer Orga­ni­sa­ti­on Daten in inter­nen Sys­te­men erfasst haben, ist dies nun­mehr (soweit mög­lich) von den Kun­den und Lie­fe­ran­ten selbst zu übernehmen.
  • Intel­li­gen­te“ Werk­stü­cke und Pro­duk­ti­ons­mit­tel: Produktions- und Betriebs­pro­zes­se wer­den durch neue Pro­zess­pa­ra­dig­men fle­xi­bler und leis­tungs­fä­hi­ger („Indus­trie 4.0“). Werk­stü­cke und Werk­zeu­ge tra­gen jetzt die Daten bzw. „Intel­li­genz“ über ihre bis­he­ri­gen und noch mög­li­chen Fertigungs- und Betriebs­schrit­te mit sich.
  • Inter­net der Din­ge: Aus­deh­nung von Pro­zes­sen auf ver­netz­te Gerä­te und Gegen­stän­de, vor­wie­gend deren Akto­ren und Sensoren.
  • Media­ti­sie­rung: Digi­ta­li­sie­rung bedeu­tet eben­so, bis­lang phy­sisch gebun­de­ne Infor­ma­tio­nen, bei­spiels­wei­se gedruck­te Bücher, zu digi­ta­li­sie­ren und in Form Datei­en und Daten­strö­men ein­fach reproduzier- und ver­teil­bar zu machen.
  • Dis­in­ter­me­dia­ti­on ist ein Geschäfts­mo­dell, bei der Zwi­schen­händ­ler mit Hil­fe digi­ta­ler Pro­zes­se über­flüs­sig gemacht wer­den. Die bekann­tes­ten Anwen­dungs­fäl­le sind Reise- und Über­nach­tungs­bu­chun­gen, Per­so­nen­be­för­de­rung, Lie­fer­diens­te und Unter­hal­tung (Fil­me, Bücher, Musik, Spiele).
  • Digi­ta­le Trans­ak­ti­ons­platt­for­men brin­gen die Geschäfts­part­ner gegen eine Trans­ak­ti­ons­ge­bühr zusam­men. Dabei kön­nen sie in den meis­ten Fäl­len den größ­ten Teil der Mar­ge für sich ver­ein­nah­men, weil sie den exklu­si­ven Zugang zu den Daten der Betei­lig­ten haben. Die eigent­li­chen Leis­tungs­an­bie­ter gera­ten durch ihre ein­fa­che Aus­tausch­bar­keit oft in wirt­schaft­lich pre­kä­re Abhän­gig­kei­ten. Pro­fes­sio­nel­le Anbie­ter gera­ten in den unre­gu­lier­ten Wett­be­werb mit Privatanbietern.
  • Objek­ti­fi­zie­rung von Kun­den: Alter­na­ti­ve oder zusätz­li­che Ein­nah­men ent­ste­hen Platt­form­be­trei­bern dadurch, dass sie Geschäfts- und Meta­da­ten aus­beu­ten und an Drit­te ver­kau­fen oder ver­mie­ten. In die­sem Fall sind die Geschäfts­part­ner (vor allem die Kun­den) nicht mehr oder nicht mehr allein nur han­deln­de Sub­jek­te, son­dern wer­den selbst zu Objek­ten: „Wenn eine Ware/Leistung nichts kos­tet, bist du selbst die Ware/Leistung“.
  • Eine wei­te­res digi­ta­les Phä­no­men, vor allem von Platt­for­men zur sozia­len Kom­mu­ni­ka­ti­on („sozia­le Netz­wer­ke“), ist die Platt­form­mo­no­po­li­sie­rung. Sobald eine kri­ti­sche Men­ge von Nut­zern dabei ist, ent­steht ein sozia­ler Sog. Wer sich nicht selbst aus­gren­zen möch­te, muss auch mit­ma­chen und einwilligen.
  • Auf Basis eini­ger der vor­ge­nann­ten Geschäfts­mo­del­le wird schließ­lich auch Ver­hal­tens­an­ti­zi­pie­rung mög­lich. Mit Hil­fe von Big Data und „künst­li­cher Intel­li­genz“ geben Maschi­nen Pro­gno­sen über das Ver­hal­ten von Men­schen ab
  • oder nut­zen dies gar zur Nutzer­ma­ni­pu­la­ti­on (von plum­per Wer­bung bis hin zu sub­ti­len per­so­na­li­sier­ten und ethisch kri­ti­schen Manipulationen).

Wäh­rend im blau­en Bereich in der nach­fol­gen­den Abbil­dung (Kom­ple­xi­täts­spe­zi­fi­sche Füh­rungs­fo­ki) die Reduk­ti­on von Kos­ten im Vor­der­grund steht, um kos­ten­güns­ti­ger als der Wett­be­werb pro­du­zie­ren zu kön­nen, geht es im oran­gen Bereich eher um die Stei­ge­rung der Ver­käu­fe. Hier bie­ten die ver­schie­de­nen Stra­te­gien und Geschäfts­mo­del­len der Digi­ta­li­sie­rung aktu­ell die größ­ten Hebel.

Wäh­rend in der Zeit vor der Digi­ta­li­sie­rung die Leis­tungs­ori­en­tie­rung vor allem mit Hil­fe mate­ria­lis­ti­scher Ziel­ver­ein­ba­run­gen erreicht wur­de, um die betei­lig­ten Mit­ar­bei­ter zu höhe­ren Leis­tun­gen zu bewe­gen, bei­spiels­wei­se mehr zu ver­kau­fen, geht es im Zeit­al­ter der Digi­ta­li­sie­rung im oran­gen Bereich mehr um die bes­se­re Nut­zung der Null-Grenzkostenbereiche in den Geschäftsmodellen.

Aktuelle Herausforderung: Disruptions- und Anpassungsfähigkeit erhöhen

Dadurch, dass es viel ein­fa­cher gewor­den ist, neue Geschäfts­mo­del­le aus­zu­pro­bie­ren, wer­den bestehen­de Markt­teil­neh­mer her­aus­ge­for­dert und ver­un­si­chert. Und soweit die neu­en Geschäfts­ideen erfolg­reich wer­den, stel­len sie oft­mals klas­si­sche Geschäfts­mo­del­le oder gan­ze Bran­chen in Fra­ge. Die­se neu­en Geschäfts­mo­del­le und ‑stra­te­gien sor­gen für eine grö­ße­re Dyna­mik und Kom­ple­xi­tät für bestehen­de Unter­neh­men, so dass sich die betrof­fe­nen Unter­neh­men anpas­sen und neu erfin­den müssen.

Unse­re Orga­ni­sa­tio­nen sind his­to­risch tay­lo­ris­tisch geprägt, auf Effi­zi­enz getrimmt und opti­miert für weit­ge­hend sta­bi­le Rah­men­be­din­gun­gen. Das nun dyna­mi­scher und kom­ple­xer gewor­de­ne Umfeld über­for­dert des­halb vie­le Orga­ni­sa­tio­nen. Um die Anpas­sungs­fä­hig­keit an neue geschäft­li­che Rah­men­be­din­gun­gen, Markt- und Wett­be­werbs­si­tua­tio­nen, tech­ni­sche Ent­wick­lun­gen und eini­ges mehr zu errei­chen, sind ande­re Organisations- und Füh­rungs­prin­zi­pi­en hilfreich.

Bei­spiels­wei­se ist der äuße­ren Kom­ple­xi­tät eine pas­sen­de inter­ne Kom­ple­xi­tät ent­ge­gen­zu­stel­len. Weil kaum vor­her­seh­bar ist, wann und wo in einer Orga­ni­sa­ti­on wel­che Koope­ra­tio­nen und Kom­mu­ni­ka­tio­nen not­wen­dig sind, müs­sen Ver­ant­wort­lich­kei­ten, Ent­schei­dun­gen und Koope­ra­ti­ons­be­zie­hun­gen dyna­misch und situa­tiv ver­teilt und gestal­tet wer­den. Lini­en­or­ga­ni­sa­tio­nen mit fes­ten Führungskräfte-Hierarchien kön­nen dies kaum leisten.

Obwohl das Schlag­wort Vuca (ein Acro­nym für Vola­ti­li­ty, Uncer­tain­ty, Com­ple­xi­ty und Ambi­gui­ty. Deutsch: Vola­ti­li­tät, Unsi­cher­heit, Kom­ple­xi­tät und Mehr­deu­tig­keit) in den letz­ten Jah­ren gro­ße Auf­merk­sam­keit erhal­ten hat, heißt dies noch lan­ge nicht, dass Effizienz- und Leis­tungs­den­ken obso­let sind. Bei der gan­zen Vuca-Diskussion konn­te der Ein­druck ent­ste­hen, dass es jetzt nur noch um Dyna­mik und Kom­ple­xi­tät geht.

Doch die Bemü­hun­gen der Wirt­schaft um immer wei­te­re Effizienz- und Pro­duk­ti­vi­täts­stei­ge­run­gen ist unver­min­dert. Die The­men Anpassungs- und Kom­ple­xi­täts­fä­hig­keit lösen nicht das bis­he­ri­ge Effizienz- und Leis­tungs­den­ken ab, son­dern beschrei­ben zusätz­li­che not­wen­di­ge Fähigkeiten. 

Die Digi­ta­li­sie­rung wird ger­ne als Grund für neue Orga­ni­sa­ti­ons­prin­zi­pi­en genannt. Ange­sichts der ver­schie­de­nen Spiel­ar­ten der Digi­ta­li­sie­rung fin­de ich dies jedoch zu pau­schal. Eini­ge For­men der Digi­ta­li­sie­rung sind ein­fach nur fort­ge­schrit­te­ne Auto­ma­tise­rungs­stra­te­gien, die vie­le Unter­neh­men offen­bar auch mit ihren bis­he­ri­gen, an Effi­zi­enz und Leis­tung aus­ge­rich­te­ten Organisations- und Füh­rungs­prin­zi­pi­en ganz gut bewäl­ti­gen können.

In die­sem Kon­text steht auch der gera­de popu­lä­re Begriff der orga­ni­sa­tio­na­len Ambi­dex­trie. Ambi­dex­trie ist das Fremd­wort für Beid­hän­dig­keit. Die bei­den Hän­de sind im Orga­ni­sa­ti­ons­kon­text die Explo­ita­ti­on (Aus­nut­zung von Bestehen­dem) und die Explo­ra­ti­on (Erkun­dung von Neu­em). Ich ver­wen­de lie­ber die etwas dif­fe­ren­zier­te­re Matrix aus der oben ste­hen­den Abbil­dung. Die dor­ti­ge zusätz­li­che Unter­schei­dung zwi­schen Effzienz- und Leis­tungs­ori­en­tie­rung fin­de ich hilf­reich. Und sie zeigt, dass Unter­neh­men nicht nur zwei Spiel­ar­ten beherr­schen müs­sen, son­dern kom­ple­xi­täts­spe­zi­fisch den Fokus vari­ie­ren kön­nen müs­sen. In unse­ren Orga­ni­sa­tio­nen exis­tiert alles neben­ein­an­der, nur dass in ver­schie­de­nen Berei­chen, zu ver­schie­de­nen Zeit­punk­ten und in unter­schied­li­chen Kon­tex­ten jeweils ande­re Foki rele­van­ter sind.

 

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare
  1. Ich fra­ge mich, wie die Auto­ma­ti­sie­rungs­tech­nik in zehn Jah­ren aus­se­hen wird? Es war mir zuvor nicht bekannt, dass die Grenz­kos­ten von digi­ta­len Pro­zes­sen, gegen Null lau­fen. Ich fin­de das Poten­zi­al die­ser The­ma­tik extrem interessant!

  2. Ich fin­de es span­nend, wie weit die Umset­zung von Auto­ma­ti­sie­rungs­tech­nik in den letz­ten Jah­ren gekom­men ist. Wie Sie schon mei­nen geht die Aus­deh­nung der Auto­ma­ti­sie­rung bis an die Schnitt­stel­le von Kun­den, Lie­fe­ran­ten und Geschäfts­part­nern und dar­über hin­aus. Ich habe das Gefühl, mit immer mehr digi­ta­len Inter­faces zu arbeiten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.