Bei der Einführung agiler Organisationsentwicklungsprinzipien entstehen kulturbildende Momente, die ganz wesentlich entscheiden, welche kulturellen Veränderungen aus bestimmten Interventionen resultieren. Diese Momente lassen sich bewusst nutzen. Mehr dazu in diesem Beitrag.

Was ist Kultur und wie ist sie gestaltbar?

Das Thema ist insofern gewagt, als dass jede Definition von Kultur kontrovers aufgenommen wird. Es existieren unzählige verschiedene Vorstellungen davon, was Kultur ist, und dieser Sammlung füge ich jetzt weitere hinzu:

Kultur ist die Annahme, eine Menge gemeinsamer Werte und Haltungen zu teilen, die dann mit unserem Verhalten beobachtbar werden.

Die Kultur einer Organisation zeigt sich in ihren Kommunikationen und im Verhalten ihrer Organisationsmitglieder. Wobei der Begriff Kommunikationen hier sehr weit gefasst ist und beispielsweise auch Äußerlichkeiten umfasst, wie die Beschaffenheit der Räume und der Arbeitsmittel, sowie der Umgang mit Sprache und Zeit.

In diesem Sinne ist Kultur etwas, was wir beobachten aber nicht unmittelbar und kausal gestalten können. Kultur lässt sich allenfalls mittelbar beeinflussen und auch dann ohne sichere Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge.

Weil Kultur nicht unmittelbar zielgerichtet hergestellt werden kann, können wir nur beobachten, welche Impulse zu welchen Veränderungen führen. Andererseits können wir davon ausgehen, dass alle Veränderungen immer auch mehr oder weniger auf die Kultur wirken.

Welche Wirkungen welche Interventionen und Veränderungsimpulse haben, hängt auch wesentlich davon ab, wie viel Aufmerksamkeit diese in einer Organisation erhalten – was durchaus gestaltbar ist. Aufmerksamkeit ist ein wesentlicher Machtfaktor: Macht entsteht erst dadurch, dass Menschen jemanden Aufmerksamkeit schenken. Nicht jedes Organisationsmitglied erhält die gleiche Aufmerksamkeit, sondern dies korrespondiert auch mit den Rollen, die jemand wahrnimmt. Die Organisationsstruktur, wer für was zuständig ist, beeinflusst hochwirksam die Möglichkeiten, Aufmerksamkeit in einer Organisation zu lenken.

Was ist ein kulturbildendes Moment?

Die meisten wahrnehmbaren Verhaltensweisen in einer Organisation sind vorhersehbar, gerade das macht Kultur aus. Für das Allermeiste, was regelmäßig passiert, gibt es implizite Erwartungshaltungen, also Erfahrungswerte.

Wenn jemand zu spät in ein Arbeitstreffen kommt: Wird das typischerweise ignoriert? Wird darüber eine humorvolle oder sarkastische Bemerkung gemacht? Oder wird eine ernste Ermahnung ausgesprochen?

Wenn im Rahmen von Veränderungsprozessen in einer Organisation ganz neue und überraschende Situationen entstehen, also solche, für die es noch keine belastbaren Erfahrungswerte gibt, dann steigt ganz automatisch die Aufmerksamkeit der Beteiligten. Wir sind als soziale Wesen auf Gemeinschaften angewiesen und alleine weniger überlebensfähig. Deswegen haben wir als Menschen das Bedürfnis, uns der Zugehörigkeit und unserer Position in einer Gemeinschaft sicher zu sein. Situationen und Kontexten, in denen uns diese Sicherheit fehlt, geben wir eine erhöhte Aufmerksamkeit.

Ein kulturbildendes Moment ist eine überraschende Situation in einer Gemeinschaft, in der die Beteiligten mit hoher Aufmerksamkeit verfolgen, was nun passiert oder unterlassen wird und welche Unterscheidungen in diesem Moment gemacht werden, um daraus ein Erfahrungsmuster für die Zukunft abzuleiten.

Wenn wir im Rahmen der Adaption agiler Organisationsentwicklungsprinzipien neue Formen der Entscheidungs- und Willensbildung ausprobieren, kommt es oft zu solchen kulturbildenden Momenten. Beispiele:

  • Ein Kreis trifft zum ersten Mal eine Entscheidung, die ganz offensichtlich der Meinung oder dem Willen der bisherigen Führungskraft widerspricht.
    Mit großer Wahrscheinlichkeiten richten sich die Augen der Beteiligten auf die bisherige Führungskraft: Wie wird sie reagieren? Mit welcher Mimik und Haltung? Was sagt und wie sagt sie etwas dazu? Akzeptiert sie die Entscheidung uneingeschränkt? Muss der Initiator der Entscheidung eine Strafe befürchten? Zweifelt die Führungskraft die Entscheidung an? Versucht sie, die Entscheidung nachträglich in ihrem Sinne zu verändern? Welches Muster schreiben die Beobachter der Situation zu? Werden Gruppenentscheidungen hier nur so weit akzeptiert, wie der Chef sie akzeptiert? Oder gelten sie und sind verbindlich, auch wenn der Chef anderer Meinung ist?
  • Ein Kreis, der ausgesprochen vertrauensvoll miteinander arbeiten möchte, beauftragt ein Mitglied zu einer Entscheidung, gibt dabei jedoch einen besonders engen Entscheidungsspielraum vor oder sehr detaillierte Vorbehalte und Auflagen.
    Einerseits wurde vielleicht darüber gesprochen und vordergründig vereinbart, sehr vertrauensvoll miteinander umzugehen. Andererseits zeigt sich in einer Situation, in der sich der Grad des vorhandenen Vertrauens gut erkennen lässt, dass dies nicht sehr weitreichend ist.

In solchen Situationen werden die Beteiligten vermutlich aufmerksam verfolgen, ob diese offensichtlichen Widersprüche offen angesprochen oder unter den Teppich gekehrt werden. Wird ein Teilnehmer den Widerspruch benennen und was passiert dann? Wird die Moderatorin, Prozessbegleiterin, Gastgeberin oder Achtgeberin der Entscheidungsrunde intervenieren? Oder werden im neuen Kontext alte Handlungsmuster unreflektiert reproduziert?

Als externe Organisationsbegleiter haben wir die Möglichkeit, eine Situation zu spiegeln, unsere Wahrnehmungen und Thesen mitzuteilen, Abweichungen von den selbst getroffenen Vereinbarungen der Gruppe anzusprechen und zu fragen, was die Gruppe braucht, um ein neues Verhalten auszuprobieren.

Meistens reicht die Offenlegung der Beobachtung und Thesen bereits aus, also die bewusste Lenkung von Aufmerksamkeit. Oft werden alte Handlungsweisen wenig bewusst und ohne explizite Absicht reproduziert und eine kritische Menge der Gruppenmitglieder wäre jedoch bereit, Neues auszuprobieren.

Bei der Einführung agiler Organisationsentwicklungsprinzipien können und sollten kulturbildende Momente ganz gezielt gesucht und genutzt werden. Irgendwann wird ein Kreis zum ersten Mal eine Entscheidung treffen, die der bisherigen Führungskraft nicht passt. Wir wissen nicht, wann und wo und zu welchem Thema, aber die Situation wird früher oder später kommen. Als externe Begleiterin können wir darauf vorbereitet sein, wir können geradezu darauf lauern, um dann durch eine passende Intervention der Gruppe eine wichtige Lern- und Entwicklungserfahrung zu ermöglichen.

Dabei ist das Ergebnis einer solchen Intervention weniger interessant als die Frage, was eine Gruppe braucht, um Neues auszuprobieren. Wir können als externe Begleiter der Gruppe kein anderes Verhalten aufzwingen, aber wir führen mit Fragen und regen mit Thesen offen eine Entwicklung an.