Was sind eigentlich die wichtigsten Prozess-, Struktur- und Haltungselemente kollegialer und agiler Organisationsentwicklung? Die sechs aus unserer Sicht wichtigsten Bausteine möchten wir in der hier startenden Blogserie benennen. In diesem ersten Teil starten wir mit der professionellen systemisch-integrale Haltung der externen Organisationsbegleiterinnen.

Was ist eine Haltung?

Für uns ist eine Haltung ein grundlegender aus Werten, Einsichten, Denk- und Gefühlsmustern bestehender innerer Haltepunkt zu einer Angelegenheit, der unser Verhalten leitet. Eine Haltung ist also nicht allein eine Überzeugung oder eine Einstellung – sie wird im individuellen Lebensvollzug auch beobachtbar, also in den Handlungen, Zielsetzungen, Aussagen und Urteilen eines Menschen.

Eine Haltung ist eine Brücke zwischen verinnerlichter Theorie und Gefühlsmustern zur Praxis und zum Können. Haltungen sind erlernbar und im beruflichen Kontext damit auch Teil der professionellen Persönlichkeitsbildung.

Die Beziehung zum Kunden im Kontext einer professionellen Haltung

Die Auftraggeberin und die Organisationsmitglieder verfügen i.d.R. noch nicht über die gewünschte Haltung, sonst bräuchten sie unsere Unterstützung als Prozessbegleiterin nicht. Eine neue Haltung ist also das Ergebnis, nicht die Voraussetzung für eine agile Organisationsentwicklung. Die Auftraggeberin und ihre Organisationsmitglieder verfügen vielleicht über Wissen zu agilen und kollegialen Werten und möglicherweise auch über einzelne Erfahrungen. Eine Haltung, in dem Sinne, dass bestimmte Werte, Einsichten, Denk- und Gefühlsmuster den Beteiligten Halt geben und sicher und belastbar handlungsleitend sind, haben sie meist noch nicht.

Unsere Aufgabe als externe Begleiterinnen besteht vor allem darin, bestimmte Haltungen im realen Organisationskontext übbar (trainierbar) zu machen und mit großer Klarheit zu demonstrieren. Die tradierten Werte in einer Organisation werden dabei immer wieder in einem Spannungsfeld zu denen einer agilen Organisationsentwicklung stehen. Ebenso wird es im Adaptionsprozess immer wieder zu Rückgriffen auf alte Handlungsmuster kommen. Als Beraterin müssen wir diese Unterschiede und die beginnenden Veränderungen identifizieren und für die Organisationsmitglieder deutlich wahrnehmbar machen.

Um dies als Beraterin leisten zu können, reicht eine Prozesskompetenz allein nicht aus – wir benötigen belastbares fachliches Erfahrungswissen über agile Organisationsentwicklung, um aus diesem heraus Unterschiede und Entwicklungen spürbar markieren zu können.

Um welche Haltungen geht es konkret?

Im Folgenden benennen wir aus unserer Sicht wichtige Werte und Haltungen, in dem Wissen, dass dies eine subjektive und unvollständige Aufzählung ist. Mit Rücksicht auf den Umfang dieses Beitrages benennen wird diese auch nur kurz, statt sie ausführlich zu beschreiben.

Das System ändern, nicht die Menschen.

Eine systemisch-konstruktivistische Haltung bedeutet, jeder Mensch handelt aus seiner Sicht im jeweiligen Augenblick und Kontext sinnvoll. Menschen sind soziale und nur gemeinschaftlich überlebensfähige Wesen, weswegen wir ganz natürlich danach streben, uns in Gemeinschaften zu integrieren, wertvolle Beiträge für die Gemeinschaft zu erbringen und dafür Anerkennung zu erfahren.

Gleichzeitig sind Menschen komplexe Wesen mit unterschiedlichsten Bedürfnissen, Emotionen, Werten, selektierender Wahrnehmung und einer individuellen Realitätskonstruktion, weswegen sich unser Verhalten von außen nicht zuverlässig deuten, vorhersagen oder steuern lässt. Die Anerkennung der Integrität der Organisationsmitglieder gehört zum Grundprinzip agiler Organisationsentwicklung: Anstatt das Verhalten von Menschen zielgerichtet anpassen zu wollen, schaffen wir neue Kommunikationspraktiken, -prozesse und -strukturen, die es den Menschen einfacher ermöglichen, Eigen- und Fremdbild abgleichen zu können und neue Handlungsweisen zu erproben, um sich weiterentwickeln zu können.

Führung von außen nach innen

Um die Anpassungsfähigkeit einer Organisation an die Umwelt zu gewährleisten, benötigt sie eine möglichst direkte Verbindung und Resonanz zu dieser, vor allem zum Markt. Die agile Organisation wird deswegen von außen nach innen geführt. An der Peripherie, also an der Grenze zum Markt, wird dabei die direkte Wertschöpfung verortet. Keine Zentrale, sondern die Einheiten der Peripherie entscheiden über ihre Wertschöpfung und alles, was damit zusammenhängt (Produkte, Preise, Geschäftsmodelle, Strategien, Lieferanten, interne Zulieferleistungen, eigenes Personal etc.).

Lösungsorientiertes Vorgehen

Folgende gängige systemische Prinzipien leiten uns:

  • Wir lenken unsere Aufmerksamkeit so viel wie möglich auf Lösungen, Möglichkeiten und Gelegenheiten und so wenig wie nötig auf Probleme, Defizite oder Mängel.
  • Wir fokussieren auf Unterstützer statt auf Widerstände und Vorbehalte.
  • Wir versuchen eher neue Verhaltensweisen zu ermöglichen, als bestehende zu verhindern.
  • Wir probieren einfach in einem überschaubaren Rahmen etwas aus, statt zu spekulieren oder uns vermeintlich abzusichern, welche Wirkung oder welchen Nutzen unsere Entscheidungen und Handlungen haben werden.
  • Wir würdigen das was ist und wie es dazu gekommen ist. Wir versuchen wertschätzend die Zweckmäßigkeit bestehender Widrigkeiten zu verstehen, statt sie nur als Last zu betrachten.
  • Wir streben nach vielfältigen Perspektiven, statt zu verallgemeinern.
  • Wir vertrauen den Organisationsmitgliedern mit einer gewissen Gelassenheit.

Integrales Wertesystem: hin zu statt weg von

Integrale Modelle wie beispielsweise Spiral Dynamics beschreiben und unterscheiden bestimmte Wertesysteme. Diese Wertesysteme zeigen eine langfristige Entwicklungstendenz hin zu einer ständig wachsenden Komplexität und mehr Verbundenheit. In allen Wertesystemen geht es um die Herstellung von Sicherheit und um das Überleben der Individuen und der Gemeinschaften.

Während die Wertesysteme der ersten Ordnungsebene in Spiral Dynamics (Beige bis Grün) von der Überwindung von Mangel und einer Weg-von-Bewegung geprägt sind, sind die danach folgenden Wertesysteme Gelb und Türkis (2. Ordnungsebene) durch Fülle und Reichtum und einer Hin-zu-Bewegung charakterisiert.

Für den Kontext agiler Organisationsentwicklung halten wir die Wertesysteme der zweiten Ordnungsebene für bedeutsam. Unser Modell kollegialer Führung basiert auf integralen Wertesystemen mit einer Hin-zu-Bewegung. Die Anforderungen an die Anpassungsfähigkeit in einer komplexen und dynamischen Umwelt sind unseres Erachtens mit einem integralen Wertesystem einfacher zu erfüllen.

Auf der zweiten Ordnungsebene geht es auch um das Überleben und die Entwicklung des Lebens, von Ökosystemen und des Planeten an sich, also um die Menschheit, Tiere und Pflanzen. Im Kontext von Organisationen und Unternehmen sind somit auch die Wechselwirkungen und die Verbundenheit der sozialen Systeme mit ihrer Umgebung relevant. Nur durch neue Denkstrukturen und Herangehensweisen werden wir hier reife transkontextuelle Entscheidungen treffen können. Welchen Nutzen erzeugt eine Organisation für die Gesellschaft? Welchen Beitrag leistet sie für die Entwicklung der Gesellschaft und des Planeten? Wie gehen wir mit Ressourcen um?

Der höhere evolutionärer Sinn der gelben Ebene von Spiral Dynamics ist auch durch die aktuellen Technologien bedeutsamer geworden: Wir haben auf Basis des Internets ein globales System und eine noch nie dagewesene All-Verbundenheit erschaffen. Geräte, Lebewesen, Organisationen und Gesellschaften aller Art sind in vielfältigster Weise wechselwirkend miteinander verbunden. Wir haben damit eine völlig neue Dimension von Komplexität und Dynamik erreicht, mit der auch Fragen der Verantwortung, des Gemeinwohls und Wechselwirkungen planetaren Ausmaßes ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten. Es zieht uns regelrecht ins Gelbe.

Mit diesem Sog sind die auf Mangelüberwindung ausgerichteten Wertesysteme überfordert. Wir sehen die agile Organisationsentwicklung als Teil eines Wertesystems zweiter Ordnung, mit dem wir die vorhandenen Ressourcen benutzen, um eine integralere Zukunft zu kreieren. Deswegen ist die Klärung des Wozu, Wohin und des höheren evolutionären Sinns für uns ein obligatorisches Element.

Ausblick

Im nächsten Blogbeitrag dieser Serie geht es um das Thema kleinschrittiges erprobendes Herantasten.