Weder Menschen noch Organisationen sind Maschinen die sich kausal steuern lassen. Es gibt keine nutzbaren eindeutigen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Und deswegen lassen sich Organsiationen gar nicht gezielt und vorhersehbar ändern. Genau das wünschen wir uns aber und viele Führungskräfte werden sogar mit Zielvereinbarungen konfrontiert, die dieses Wunder voraussetzen.

Wie also kann man eine Organisation trotzdem ändern? Dies erklärt der folgende Beitrag.

Trampelpfade

In einem vorigen Blog-Beitrag mit dem Titel Trampelpfade, die die Realität in einer Organisation bestimmen hatte ich die Kommunikation in Unternehmen mit Trampelpfaden auf einer Blumenwiese verglichen: Die Mitglieder einer Organisation wechseln stetig. Neue Kolleginnen kommen, andere verlassen das System. Die kommunikativen Trampelpfade und Wege aber bleiben sichtbar und wirksam – auch die Neuen benutzen Sie automatisch. Deswegen sind Organisationen so erstaunlich stabil gegenüber dem Austausch von Mitarbeitern.

Diese Metapher möchte ich für diesen Beitrag weiter nutzen: Sie können in einem Unternehmen neue befestigte Wege bauen und Wegweiser aufstellen, also die offiziellen Prozesse und Strukturen verändern, und dennoch kann es passieren, dass die Mitarbeiter weiterhin querfeldein gehen, neue Abkürzungen nehmen oder einen großen Bogen darum machen.

Bestehende Wege und Trampelpfade unbenutzbar zu machen, wäre eine stärkere Intervention. Wenn Sie beispielsweise bestimmte Rollen oder Prozesse einfach abschaffen, dann provozieren Sie eine Veränderung. Sie können bloß nicht sicher vorhersagen, in welcher Weise sich die Kommunikation und damit die Kultur in Ihrem Unternehmen ändert. Menschen sind eben komplexe Wesen mit eigenen Ideen, Ängsten, Präferenzen, Bedürfnissen usw., was zu sehr individuellen und kaum vorhersehbaren Verhalten führt.

Was dann?

Komplexe Systeme wie Organisationen lassen sich am besten evolutionär entwickeln. Also nicht über (langfristige) Pläne, sondern über das biologische Prinzip von Vielfalt, Selektion und Erhaltung.

Die Evolution ist hier unser Vorbild: viele kleine Schritte und Änderungen, die unmittelbar ihren Nutzen beweisen müssen und dann entweder wieder verschwinden oder sich bewähren und erhalten bleiben. Die Natur fragt dabei nicht, ob eine Eigenschaft in der Zukunft einmal nützlich sein könnte, sie guckt nicht voraus. Es gilt ausschließlich die Gegenwart. Alle Lösungen müssen für den Augenblick brauchbar sein.

mdl_mechanistische-vs-empirische-organisationsentwicklung

Variation (konkurrierende Vielfalt)

In der Natur entstehen kontinuierlich neue Ideen und Varianten. Die Natur plant nicht, sie probiert einfach immer wieder Neues aus. Die meisten neuen Ideen setzen sich nicht durch, sie scheitern. Nur manche der Ideen, die sich durchsetzen, haben große Wirkungen. Ob eine Idee sich durchsetzt, hängt auch von ihrer unmittelbaren Umgebung ab, wie freundlich oder feindlich diese ist. Deswegen können Schutzräume helfen. Die Natur erprobt dabei viele konkurrierende Ideen gleichzeitig – uns Menschen fällt dies schwerer, weil wir effizient sein und vorhersehen wollen, welche Idee denn die beste Investition ist.

Restriktion (Ressourcen würdigen)

Die Natur verändert aber auch nur so viel, dass das Scheitern verkraftbar ist. Sie probiert Veränderungen in einem Rahmen und einer Größenordnung aus, dass sie Niederlagen überstehen kann. Für Menschen und Organisationen bedeutet dies, sie sollten ihren leistbaren Verlust kennen (jeder Art, nicht nur finanziell). Maßgeblich ist bei diesem Prinzip nicht die erwartete Rendite oder Erfolgsprognose, sondern lediglich, ob die weitere Existenz gefährdet ist. Um den leistbaren Verlust zu bestimmen, muss man seine Möglichkeiten und Ressourcen kennen bzw. je besser man diese kennt und desto mehr Ressourcen man entdeckt, desto mehr Verlust kann man sich leisten. Siehe hierzu auch das Thema Effectuation.

Antizipation (vorbereitet sein)

Zu erkennen, wie viel man wagen kann, ohne mit dem Scheitern der einzelnen Idee die Organisation insgesamt zu gefährden, ist bereits ein Teil der Vorbereitung. Zusätzlich können wir versuchen, uns auf den Eintritt möglicher Szenarien vorzubereiten. Wir können nicht vorhersehen, wie sich etwas entwickelt. Wir können uns jedoch vorbereiten und mögliche Zukünfte antizipieren. Das gilt nicht nur für den Fall des Scheiterns: Was wollen wir tun, wenn die Idee (im Kleinen) funktioniert? Was passiert, wenn andere Anbieter uns zuvorkommen, nachziehen oder etwas Ähnliches erfinden? Wie können wir damit umgehen, wenn sich relevante Rahmenbedingungen (Gesetze, technische Möglichkeiten, globale Krisen etc.) ändern?

Selektion (Scheitern erkennen)

Die Ideen werden schnell praktisch erprobt. Erfolg und Niederlage müssen unterschieden werden können. Was kann aus dem Geschehenen gelernt werden? Eine Organisation braucht schnelle Rückmeldungen. Die Herausforderung für Menschen besteht darin, Verluste und Scheitern anzuerkennen und Frieden mit ihnen zu schließen. Wir müssen bereit sein, Dinge aufzugeben, die nichts mehr bringen. Unser Gehirn ist so gebaut, dass es Schmerzen zu vermeiden sucht und deswegen neigen wir dazu, Niederlagen nicht anzuerkennen, uns die Welt schönzureden und sogar trotzig weitere Risiken einzugehen, die wir anderenfalls nie akzeptiert hätten.

Erhaltung (weiter verbreiten)

Wenn sich etwas bewährt hat, wird es beibehalten, weiterentwickelt, ggf. weiter verteilt und der Kreislauf beginnt von vorne.

Zirkuläre Organisationsentwicklung

Ein grundlegender Unterschied zwischen einer eher mechanistisch geprägten und einer agilen und zirkulären Organisationsentwicklung besteht darin, zu welchem Zeitpunkt eine Veränderung eingeführt und praktiziert wird und wann über diese Veränderung entschieden wird.

 

Mechanistische vs Empirische OE-CCL

In dem einen Fall (obere Teil in der folgenden Abbildung) werden auf Basis von festgelegten Veränderungszielen die möglichen Optionen ausgewählt und damit eine Entscheidung über notwendige Veränderungen getroffen. Diese werden dann umgesetzt. Es werden also bestimmte Ursache-Wirkungszusammenhänge (Kausalitäten) erwartet und unterstellt.

Im anderen Fall (untere Teil in der folgenden Abbildung) werden keine Veränderungsziele festgelegt, sondern angestrebte Werte und Prinzipien geklärt. Dann werden (eine oder mehrere voneinander weitgehend unabhängige) Veränderungen einfach mal ausprobiert. Ausprobieren heißt hier, die Entscheidung ist umkehrbar und (zeitlich, räumlich, organisatorisch) begrenzt. Es ist ein Experiment.

Anschließend wird beobachtet, werden Thesen aufgestellt und wird bewertet, welche Veränderungen bewirkt wurden und welcher Nutzen darin gesehen wird. Erst dann wird auf dieser Basis entschieden, ob die erprobten Veränderungen beibehalten, weiter ausgebaut und entwickelt und ggf. weiter verteilt und ausgedehnt werden sollen.