Führungskräfte im Mittleren Management erleben derzeit einen Umbruch: Geschäftsleitungen und Inhaberinnen* fordern immer häufiger mehr Agilität, Flexibilität und Selbstorganisation ein. Die Kollegenschaft wünscht sich mehr Augenhöhe und Eigenverantwortung. Traditionelle Führungsbilder lösen sich auf. Neue Konzepte von Führung sind gefragt.

Neulich habe ich bei der Führungsklausur eines Unternehmens einen Impulsvortrag gehalten. Es ging um Komplexität und neue Formen der Zusammenarbeit, um agile Arbeit – und um das Konzept der Kollegialen Führung als ein mögliches Modell dafür.

Mein letzter Satz war ein Zitat meines Kollegen Bernd Oestereich: „Führung ist zu wichtig, um sie allein Führungskräften zu überlassen.“ (Das kollegial geführte Unternehmen, Vahlen 2016)

Manche Teilnehmer lachten und tuschelten etwas (mit einem verstohlenen Blick auf die Geschäftsführer in der Reihe vor ihnen). Eine Frau sagte: „Den Satz muss ich mir aufschreiben.“ Und dann kamen andere Überlegungen auf: „Das ist ja alles schön und gut, was Sie uns da erklärt haben. Wenn jeder irgendwie Verantwortung trägt, dann hat das doch Folgen. Ich frag mich, was wird dann aus mir als Führungskraft?“

Führungsarbeit ist und bleibt unverzichtbar

Meine Antwort darauf: „Nutzen Sie die Chance und gestalten Sie einen klaren Rahmen für Ihr Team oder Ihre Abteilung. Nur mit einem transparenten Rahmen für Verantwortung kann Selbstorganisation gelingen. Arbeiten Sie mit der Kollegenschaft an den passenden agilen Werkzeugen und Entscheidungsprozessen. Führungsarbeit ist und bleibt unverzichtbar. Treiben Sie die Bewegung voran.“

Gerade im Mittelmanagement erlebe ich immer wieder Sorgen und Vorbehalte, wenn es um Veränderungen hin zu mehr Agilität geht. Es gibt viele Geschichten von Unternehmen, die von „flachen Hierarchien“ reden, Führungskräfte entlassen oder degradieren – und die Kollegenschaft in die Überforderung oder Selbstüberlassung schicken. Unter Führungskräften ist auch die konkrete Sorge spürbar, durch agile Transformation letztlich den eigenen Job oder zumindest Status und Befugnisse zu verlieren. Denn oft ist das Bild von „flachen Hierarchien“ mit wenig wertschätzenden inneren Bildern von Führenden im Mittelmanagement verbunden.

Agile Zusammenarbeit bedeutet mehr als „flache Hierarchien“

Auf der anderen Seite haben viele Führungskräfte, Bereichs- und Abteilungsleiterinnen oder Leiter von Teams und Projekten den starken Wunsch, in ihrem Verantwortungsbereich agiler zu arbeiten. Damit möchten sie nicht nur dem eigenen Führungsbild und den Anforderungen des Unternehmens besser entsprechen, sondern auch eine Antwort haben auf die Bedürfnisse ihrer Kollegenschaft: 80 Prozent der Beschäftigten in deutschen Unternehmen wünschen sich nach einer Studie von Kienbaum/Stepstone (2018) „mehr Eigenverantwortung in flachen Hierarchien“.

Und manchmal geschieht agile, kollegiale Führung auch als Experiment – ganz „unter dem Radar“ einer traditionell hierarchischen Unternehmensleitung.  Auch das ist ein Beitrag zum Kulturwandel.

Selbstorganisation zum Leben erwecken

Das Konzept der Kollegialen Führung (Oestereich/Schröder) bietet viele Handlungsoptionen für das Mittlere Management und bedeutet viel mehr als nur „flache Hierarchien“. Gerade Führungskräfte im Mittleren Management können in ihrem Verantwortungsbereich die Grundprinzipien und Werkzeuge der Kollegialen Führung gemeinsam mit den jeweiligen Kolleginnen zum Leben erwecken.

Das gilt besonders,

  • wenn die Organisation sich gerade auf den Weg des Wandels gemacht hat und die Kollegenschaft Schritt für Schritt Eigenverantwortung lernt.
  • wenn Agilität und mehr Selbstorganisation gar nicht in allen Bereichen sinnvoll erscheint.

Als Impulsgeber und Rahmensetzerinnen ermöglichen und fördern Führungskräfte agile Selbstorganisation und Eigenverantwortung im Team oder im Bereich. Das erfordert oft auch eine Überprüfung der eigenen Führungshaltung und einen frischen Blick auf Gestaltungsmöglichkeiten.

Die Basis dafür ist meiner Ansicht nach, dass Führende Ihre eigene Haltung in einem insgesamt dynamischen und anspruchsvollen Umfeld reflektieren und neu bestimmen. Unsere traditionellen Vorstellungen von Führung bieten da kaum noch Vorbilder. Das klassische Führungsbild von „Weisung, Steuerung und Kontrolle“ oder „heldenhaftem Charisma“ in mehr oder weniger starker Ausprägung ist ein Produkt des letzten Jahrhunderts und keine Antwort auf  zunehmende Dynamik und Komplexität der Märkte und der Welt.

Agile, kollegiale Zusammenarbeit bringt ein neues Verständnis von Führung auch im Mittelmanagement mit sich: Die Grundverantwortung liegt darin, für den jeweiligen Verantwortungsbereich konsequent einen Rahmen zu setzen. Die ersten Fragen zum „Rahmen“ sind immer: Welche Verantwortung, welche Themen und Entscheidungen sollen obligatorisch bei mir als Führungskraft verbleiben? Und welche anderen Verantwortungen, Themen oder Entscheidungen können grundsätzlich durch einzelne Kolleginnen oder Kollegenkreise übernommen werden?

Der dann jeweils präziser definierte Rahmen schafft mit klaren Prinzipien einen Raum, in dem die jeweiligen Kolleginnen in Eigenverantwortung einzeln oder in Gruppen/Kreisen definierte Führungsrollen übernehmen und leben können. Kurz: Es geht um aktive Arbeit AM System, nicht um operative Mitarbeit IM System.  (Dafür braucht es dann tatsächlich keine exklusiv weisungsbefugten Führungspersonen mehr.)

Frischer Blick auf Praktiken und Instrumente

Welche Handlungsoptionen und Gestaltungsmöglichkeiten haben Führungskräfte durch Instrumente der Kollegialen Führung?

  1. Die zentrale Rahmensetzung für die Ergebnisse und Grundprinzipien der Zusammenarbeit ist eine wichtige Grundlage für dezentrale Selbstorganisation im Team.
  2. Das Sogprinzip „PULL statt PUSH“ ermöglicht die freiwillige und schrittweise Übernahme von Verantwortung durch einzelne Kollegen oder Kreise.
  3. Verschiedene kollegiale Entscheidungswerkzeuge ermöglichen es dem Team, effizient zu gemeinsamen Entscheidungen zu kommen, Widerstände zu integrieren oder Aufgaben sinnvoll und vertrauensvoll zu delegieren.
  4. Das Team-Board schafft Transparenz, wer sich in welcher Phase gerade um welche Aufgabe kümmert. Viele Entscheidungen über Initiativen oder Neuerungen können am Team-Board gemeinsam getroffen werden.
  5. Das kollegiale Kreismodell hilft Führungskräften mit ihren Teams zur Verortung des eigenen Bereiches in der Organisation.
  6. Die Beschreibung und visuelle Abbildung von individuellen Rollen, Verantwortungen im Team und Schnittstellen verschafft jederzeit einen Überblick über die jeweiligen Verantwortlichkeiten der Kolleginnen.
  7. Falls Führungskräfte zum Beispiel in der Rolle des „Sprechers“, der „Moderatorin“ oder „Lernbegleiterin“  Verantwortung übernehmen und diese kompetent ausfüllen, kommt ihnen für die innere Entwicklung oder die Außendarstellung des Teams eine besondere Bedeutung zu.
  8. Ein entspannter und wertschätzender Umgang mit Kollegen, die den Wandel nicht mittragen oder „einfach weiter ihren Job machen“, gehört auch dazu. Das ist verkraftbar, wenn gleichzeitig das freiwillige Engagement der Unterstützer im Team gefördert wird und sichtbar ist. Hier bedeutet das: „Weiter mit den Willigen!“ (John Kotter)
  9. Die bewusste Wahl von Kommunikationsformen rundet das Führungs-Instrumentarium für mehr Agilität und Selbstorganisation ab: Braucht es gerade reine Information, lösungsorientierte Beratung oder austauschenden Dialog, Storytelling für kulturprägende Momente oder Wirkungs- und Lerngeschichten?

Das alles sind wichtige Handlungs- und Gestaltungsoptionen für Menschen aus dem Mittelmanagement, die in ihrem Team oder Bereich agile, kollegiale Führungsinstrumente anwenden möchten. Das ist aber kein „Kochrezept“. Nur in passender Kombination und mit sicherlich noch vielen eigenen Zutaten für das jeweilige Team können die Instrumente und Prinzipien der Kollegialen Führung ein Kraftfeld entfalten.

Wie weit, wie schnell, wie umfassend?

Wie weit, wie schnell und wie umfassend sich das Team allein oder die Organisation als Ganzes durch Praktiken der Selbstorganisation agilisiert, ist eine ganze andere Frage.

Da spielen viele Faktoren systemisch fördernd oder hemmend zusammen, die außerhalb der Verantwortung der Führungskräfte liegen: Der Wille, die Konsequenz und die Ressourcenfreigabe von Inhabern oder Geschäftsführerinnen setzt den Handlungsrahmen für das Gesamtsystem.

Der Reifegrad der Organisation und die gelernte, täglich gelebte Kultur beeinflussen Geschwindigkeit und Richtung des Wandels. Mobilisierende, wertschätzende und transparente Kommunikation stärkt die intrinsische Motivation und Partizipationsbereitschaft der Kollegenschaft.

Und das entscheidet letztlich über den Gesamterfolg.

Autorin: Karin Volbracht  ist Gründungsmitglied von next U.
Sie bietet für die Zielgruppe der Führungskräfte im Mittleren Management, Team- und Projektleiter Inhouse-Workshops und Coachings an.

*Ich verwende mal weibliche und mal männliche Begriffe, dabei meine ich stets beide Geschlechter.