Welchen Nutzen haben Lernreisen für die Entwicklung agiler Organisationen?

Top-Führungskräfte, die sich dem The­ma agi­le Orga­ni­sa­ti­on nähern, wün­schen sich oft­mals eine Lern­rei­se (Lear­ning Jour­ney) und möch­ten sich Orga­ni­sa­tio­nen anse­hen, “die schon agil(er) sind”. Ein ver­ständ­li­cher Wunsch. Eine Lern­rei­se kann inspi­rie­rend sein, kann aber auch von der eige­nen Refle­xi­on zum The­ma ablen­ken und je nach dem eigent­li­chen Anlie­gen auch weni­ger hilf­reich sein. Mit die­sem Bei­trag möch­te ich eine kri­ti­sche Per­spek­ti­ve zur Mode des Organisationsentwicklungs-Tourismus teilen.

Eine Lern­rei­se ist in ein kul­tu­rel­les und sozia­les Erleb­nis. Wie fühlt sich die besuch­te Orga­ni­sa­ti­on an? Mal in eine ande­re Unter­neh­mens­kul­tur hin­ein­schnup­pern. Ist das ähn­lich wie eine Pro­be­fahrt mit einem neu­en inno­va­ti­ven Auto? Auch wenn die Asso­zia­ti­on mög­lich ist: Autos sind kom­pli­zier­te, repro­du­zier­ba­re und gezielt her­stell­ba­re Sys­te­me. Orga­ni­sa­tio­nen sind hin­ge­gen kom­ple­xe und nicht repro­du­zier­ba­re oder gezielt her­stell­ba­re sozia­le Systeme.

Sozialromantische Projektionsflächen

In bei­den Fäl­len, beim Pro­be­fah­ren wie bei der Orga­ni­sa­ti­ons­lern­rei­se wer­den Sehn­süch­te nicht nur befrie­digt, son­dern auch befeu­ert. Das beginnt sogar schon beim Lesen über ande­re Orga­ni­sa­tio­nen. Wenn Fre­de­ric Laloux eine Kran­ken­schwes­tern zitiert, Buurz­org habe ihr “ihren Beruf wie­der­ge­ge­ben”, dann ist das sehr berüh­rend. Je mehr sol­cher Geschich­ten wir lesen, des­to mehr wün­schen wir uns, auch in einem die­ser Unter­neh­men zu arbei­ten. Mir haben mehr als ein­mal Unter­neh­mer in der Auf­trags­klä­rung erzählt, dass sie Laloux gele­sen hät­ten und sich nun vor­stel­len, ihr eige­nes Unter­neh­men möge auch so wer­den. In der wei­te­ren Ver­tie­fung blieb dann aber manch­mal die wich­ti­ge Fra­ge offen, wozu dies (über das Ego der Unter­neh­me­rin hin­aus) gut sein soll und wel­chen Nut­zen das Unter­neh­men davon eigent­lich hat.

Auch die mitt­ler­wei­le zahl­rei­chen Fil­me zum The­ma geben Ein­bli­cke und befeu­ern ver­schie­dens­te Sehn­süch­te. Das The­ma “New Work” ist eine rie­si­ge Pro­jek­ti­ons­flä­che für Wün­sche, Inter­es­sen und Bedürf­nis­se aller Art. Da bewer­ben sich bei­spiels­wei­se Mit­ar­bei­ter, weil sie Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on und kol­le­gia­le Füh­rung mit Kon­flikt­frei­heit und Bequem­lich­keit ver­wech­seln. Und auch Unter­neh­me­rin­nen und obers­ten Füh­rungs­kräf­ten wird eben manch­mal warm ums Herz bei die­sem Thema.

Es man­gelt schon lan­ge nicht mehr an Refe­ren­zen und Bei­spie­len für “New Work”, agi­le Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung, kol­le­gia­ler Füh­rung und agi­len, anpas­sungs­fä­hi­gen oder sinn­ge­trie­be­nen Orga­ni­sa­tio­nen. Den­noch sind die­se Bei­spie­le meis­tens nur bedingt oder par­ti­ell über­trag­bar oder gar nütz­lich und dies möch­te ich nun etwas näher erläutern.

Theoriearbeit: Das Verallgemeinerbare extrahieren

Sich die tat­säch­li­che Pra­xis und rea­le Unter­neh­men anzu­se­hen, sie gar zu stu­die­ren, ist ein wich­ti­ger Teil der Theo­rie­ar­beit, näm­lich aus dem Wahr­nehm­ba­ren Hypo­the­sen zu bil­den und Model­le (Ver­all­ge­mei­ne­run­gen) zu extra­hie­ren. Dabei ist die Theo­rie­ar­beit vor allem Auf­ga­be der Fach­leu­te, Bera­te­rin­nen und Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­ler in die­sem Kon­text, weni­ger die der Mit­ar­bei­te­rin­nen oder Führungskräfte.

Vie­le im Rah­men des Organisationsentwicklungs-Tourismus besich­tig­te Unter­neh­men haben sehr spe­zi­el­le Rah­men­be­din­gun­gen, die gar nicht zu den Orga­ni­sa­tio­nen der Besu­cher pas­sen, wodurch die Erfah­run­gen kaum über­trag­bar sind. Hier ein paar Beispiele:

Agile Produktentwicklungsmodelle

Soft­ware­ent­wick­lungs­un­ter­neh­men, deren Kul­tur im Kon­text von Pro­dukt­ent­wick­lungs­mo­del­len wie Scrum und Kan­ban ent­stan­den ist, sind für Orga­ni­sa­tio­nen und Orga­ni­sa­ti­ons­ein­hei­ten, die kei­ne Pro­dukt­ent­wick­lung betrei­ben, nur bedingt über­trag­bar. Für die Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung sind Scrum und Co. allei­ne unzu­rei­chend oder als ein­zel­nes Inter­ven­ti­ons­ele­ment sogar unpas­send. Außer­dem han­delt es sich hier um Model­le, die deut­lich mehr als 10 Jah­re in die­sem spe­zi­el­len Bio­top gereift und wei­ter ent­wi­ckelt wur­den und auch heu­te noch oft genug gar nicht so ein­fach ein­führ­bar und repro­du­zier­bar sind. In wie vie­len Orga­ni­sa­tio­nen wur­de Scrum unzu­rei­chend ver­stan­den oder ist zur rei­nen Mecha­nik verkommen?

Im Blog­bei­trag “Unter­schie­de sys­te­misch zu agil” hat­te ich beschrie­ben, wel­che Kon­zep­te aus dem Kon­text agi­ler Soft­ware­ent­wick­lung auch für die Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung rele­vant sein kön­nen. In die­ser Gegen­über­stel­lung mit sys­te­mi­schen Ansät­zen skiz­zie­re ich auch, wel­che wei­te­ren, in der agi­len Welt feh­len­den Kon­zep­te, noch rele­vant sein kön­nen. Wobei die Gegen­über­stel­lung agil vs. sys­te­misch nur exem­pla­risch ist und zahl­rei­che wei­te­re Ansät­ze exis­tie­ren, bei denen sich moder­ne Orga­ni­sa­tio­nen typi­scher­wei­se bedienen.

Erfinderglück

Eine wei­te­re Beson­der­heit sind Unter­neh­men, deren Inhaber-Geschäftsführer selbst die Ideen­ge­ber und star­ke und über­zeug­te Trei­ber für neue Arbeits­for­men sind und ihre Mit­ar­bei­ter hier­zu maß­geb­lich inspi­rie­ren. Die Ent­wick­lung sol­cher Orga­ni­sa­tio­nen und ihrer Kul­tur ist übli­cher­wei­se sehr gebun­den an die­se visio­nä­ren Talen­te und damit für vie­le ganz nor­ma­le Unter­neh­men kaum repro­du­zier­bar. Dass bestimm­te Model­le beim jewei­li­gen Erfin­der funk­tio­nie­ren, ist das eine, die Über­trag­bar­keit auf ande­re bleibt offen.

Außer­dem exis­tie­ren oft­mals bemer­kens­wer­te blin­den Fle­cken bei sol­chen Per­so­nen und Orga­ni­sa­tio­nen. Sie sind manch­mal wenig offen für die Refle­xi­on eben die­ser, was sich spä­ter dann als ent­wick­lungs­hem­mend her­aus­stel­len kann. Mit dem jet­zi­gen zeit­li­chen Abstand schlie­ße ich mich selbst in einer frü­he­ren Inha­berrol­le in die­se Zuschrei­bung mit ein.

Kontextverwechselung

Vie­le Bücher und Fil­me beschrei­ben Bei­spie­le, erzäh­len Geschich­ten und geben Beob­ach­tun­gen wie­der, bil­den aber kei­ne Theo­rie hier­zu. Für eine über­zeu­gen­de Theo­rie­bil­dung müs­sen wir uns fra­gen: Wel­che kon­kre­ten Kon­zep­te sind in den betrach­te­ten Bei­spie­len ver­mut­lich wirk­lich wirk­sam? Wel­che Hypo­the­sen (Annah­men über Wir­kungs­zu­sam­men­hän­ge) bil­den wir dar­auf­hin? Wel­che spe­zi­el­len Rah­men­be­din­gun­gen sind zu beach­ten und wel­che sind mög­li­cher­wei­se kaum zu ver­all­ge­mei­nern oder für die typi­schen Anwen­dungs­fäl­le gar nicht relevant?

Noch­mal zurück zum Bei­spiel Buurz­org: Ich habe eini­ge Unter­neh­men ken­nen­ge­lernt und als exter­ner Bera­ter beglei­ten dür­fen, die auf den ers­ten Blick ein ähn­li­ches Geschäfts­mo­dell oder einen ähn­li­chen Zweck wie Buurz­org ver­fol­gen. Auch haben deren obers­te Füh­rungs­kräf­te Buurz­org besucht, also Lern­rei­sen unter­nom­men. Und doch ließ sich das Gese­he­ne kaum übertragen.

Die Ernüch­te­rung ist schon dar­in ange­legt, dass Fre­de­ric Laloux zwar inspi­rie­rend über bestimm­te Ereig­nis­se und Phä­no­me­ne erzählt, aber wenig kon­kret wird. Was genau ist denn der “Bera­tungs­pro­zess” bei Buurzorg?

Viel rele­van­ter sind manch­mal die Infor­ma­tio­nen, die in sol­chen Beschrei­bun­gen oder auch Fil­men feh­len. Für das Ver­ständ­nis des Phä­no­mens Buurz­org fin­de ich bei­spiels­wei­se drei weni­ger bekann­te Rah­men­be­din­gun­gen für die Über­trag­bar­keit wichtig:

Komplexitätsgrad

Das Geschäfts­mo­dell von Buurz­org hat eine eher mode­ra­te Viel­falt. Auf der X‑Achse der wei­ter unten fol­gen­den Gra­fik “Kom­ple­xi­täts­spe­zi­fi­sche Füh­rungs­fo­ki” liegt Buurz­org eher in der Mit­te. Die von mir beglei­te­ten (auf den ers­ten Blick) Buurzorg-ähnlichen Unter­neh­men wür­de ich viel wei­ter rechts ver­or­ten. Häus­li­che Pfle­ge, auch als  sozi­al­raum­ori­en­tier­te und funk­ti­ons­über­grei­fen­de Dienst­leis­tung, ist bei denen nur ein Ele­ment einer kom­ple­xen Dienst­leis­tung. Sofern es um deut­lich mehr als die häus­li­che Pfle­ge geht und die Reha­bi­li­ta­ti­on und Teil­ha­be behin­der­ter Men­schen, Leis­tun­gen zur beruf­li­chen Reha­bi­li­ta­ti­on, Kinder- und Jugend­hil­fe, Arbeits­för­de­rung oder ande­re The­men dazu­ge­kom­men, ent­steht eine deut­li­che grö­ße­re Viel­falt im Sin­ne der Gra­fik. Dar­über hin­aus steigt der Koope­ra­ti­ons­be­darf zwi­schen den ver­schie­de­nen Fach­dis­zi­pli­nen und Funk­tio­nen, zwi­schen den Men­schen in der Lebens­welt der Kli­en­ten sowie auch zwi­schen den Trä­gern und Anbie­tern. Und damit steigt auch die Unvor­her­seh­bar­keit und Kom­ple­xi­tät insgesamt.

Digitalisierung

Das Rück­grat der Buurzorg-Organisation ist offen­bar auch eine spe­zi­el­le und sehr aus­ge­präg­te Pro­zess­un­ter­stüt­zung, also ein IT-System, man könn­te auch sagen, deren sehr erfolg­rei­che Digi­ta­li­sie­rung, mit denen den Mit­ar­bei­te­rin­nen auch viel Papier­kram abge­nom­men wird. Die­se Eigen­schaft und Fähig­keit adres­siert aber nicht Mus­ter­wech­sel, Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on, Erhö­hung der Anpas­sungs­fä­hig­keit oder Dyna­mi­kro­bust­heit, son­dern eher klassisch-kausal die Effi­zi­enz und Repro­du­zier­bar­keit einer hohen Leistungsfähigkeit.

Skalierungsmuster

Von weni­gen Aus­nah­men abge­se­hen erbrin­gen alle Teams die prin­zi­pi­ell glei­che Wert­schöp­fung. Jedes Team kann sich weit­ge­hend frei und auto­nom orga­ni­sie­ren, aber ihre Tätig­kei­ten und Auf­ga­ben sind weit­ge­hend die glei­chen. Die Unter­schei­dung der Teams erfolgt geo­gra­fisch anhand der Ein­satz­ge­bie­te. Das Ska­lie­rungs­mus­ter ist letzt­end­lich das eines Fili­al­sys­tems, ähn­lich wie bei­spiels­wei­se beim dm dro­ge­rie­markt. Durch die­ses Ska­lie­rungs­mus­ter blei­ben auch der Kom­ple­xi­täts­grad mode­rat und die digi­ta­le Pro­zess­un­ter­stüt­zung gut standardisierbar.

Die­se Rah­men­be­din­gun­gen sind des­halb her­vor­zu­he­ben, weil Buurz­org als Refe­renz für die Vuca-Welt ver­wen­det wird, wich­ti­ge erfolgs­re­le­van­te Rah­men­be­din­gun­gen jedoch weit­ge­hend außer­halb der Vuca-Welt zu ver­or­ten sind. Buurz­org mag also ein sym­pa­thi­sches und sozi­al wie unter­neh­me­risch vor­bild­li­ches Unter­neh­men sein und es ver­wen­det auch moder­ne Prak­ti­ken und Prin­zi­pi­en wie bei­spiels­wei­se den Bera­tungs­pro­zess, wie sie für kollegial-selbstorganisierte Unter­neh­men typisch sind – ob es damit jedoch eine pas­sen­de Refe­renz für die Vuca-Welt ist, ist zumin­dest zu hinterfragen.

In der gan­zen Vuca-Diskussion kann man zudem den Ein­druck bekom­men, es gin­ge nur noch um Kom­ple­xi­tät und als sei­en Effizienz- und Leis­tungs­den­ken nicht mehr wich­tig. Mei­nes Erach­tens domi­nie­ren die­se Füh­rungs­fo­ki jedoch wei­ter­hin und für die Wett­be­werbs­fä­hig­keit wer­den sie auch wei­ter­hin hochr­e­le­vant blei­ben. Die Fähig­keit, mit erhöh­ter Kom­ple­xi­tät umzu­ge­hen, kommt mei­nes Erach­tens ledig­lich noch hinzu.

Agile Skalierung

Der Wunsch nach Vor­bil­dern, Refe­ren­zen und Lern­rei­sen ist nach mei­nem Ein­druck bei ange­stell­ten Top-Führungskräften in Groß­un­ter­neh­men stär­ker aus­ge­prägt als bei Inhaber-Geschäftsführerinnen. Mög­li­cher­wei­se, weil die ange­stell­ten Geschäfts­füh­re­rin­nen oder Bereichs­lei­ter ihre Ent­schei­dun­gen für neue Füh­rungs­prin­zi­pi­en stär­ker absi­chern und recht­fer­ti­gen oder ihre Ver­ant­wor­tung gar ein wenig ver­ste­cken möchten.

Umso wich­ti­ger ist die Fra­ge, ob die besuch­ten Refe­ren­zen auch zur Fra­ge der Unter­neh­mens­grö­ße, Orga­ni­sa­ti­ons­struk­tur und Inha­ber­schaft Modell­cha­rak­ter haben. Für mich ist eine wich­ti­ge Gren­ze die so genann­te Dunbar-Zahl von 150. Mei­ne Hypo­the­se für Groß­un­ter­neh­men und Kon­zern­struk­tu­ren ober­halb die­ser Mit­ar­bei­ter­zahl: Eine linea­re Ska­lier­bar­keit der Kon­zep­te für Team- und Bereichs­grö­ßen (5 – 15 bzw. 15 – 150 Mit­ar­bei­ter) ist unwahr­schein­lich. Ober­halb die­ser Grö­ßen­ord­nung sind Scrum und Co. eben­so wie die sozio­kra­ti­schen Kreis­mo­del­le von Sozio- und Holok­ra­tie nur bedingt tauglich.

Für die Koope­ra­ti­on von Berei­chen ober­halb der Dunbar-Grenze benö­ti­gen wir mei­nes Erach­tens ande­re Ent­wurfs­mus­ter. Hier scheint mir das von W. L. Gore & Asso­cia­tes bekann­te Ent­wurfs­mus­ter der Zell­tei­lung inter­es­san­ter. Zu die­sem The­ma hat­te ich bereits ein­mal den Blog­bei­trag “Holding- und Kon­zern­struk­tu­ren” ver­öf­fent­licht, auf den ich hier ver­wei­sen möchte.

Die Angst vor irreversiblen Schäden

Ein wei­te­rer Grund, den ich hin­ter dem Wunsch nach Lern­rei­sen und Vor­bil­dern ver­mu­te, hat mit der Meta­pher des “orga­ni­sa­to­ri­schen Betriebs­sys­tems” und der (mitt­ler­wei­le der Ernüch­te­rung wei­chen­den) Popu­la­ri­tät der Holok­ra­tie zu tun. Mit der Aus­sa­ge, „man kann Hol­acra­cy nicht prak­ti­zie­ren, indem man nur einen Teil der Regeln annimmt“ setzt Brain Robert­son eine hohe Ein­stiegs­hür­de. Da Orga­ni­sa­tio­nen kei­ne Maschi­nen, son­dern kom­ple­xe sozia­le Sys­te­me sind, passt die Betriebssystem-Metapher nicht. Es gibt kein “Organisations-Update”, son­dern immer nur ein mehr oder weni­ger ergeb­nis­of­fe­ner Lern­pro­zess von Men­schen. Die Men­schen brau­chen Wochen und Mona­te, bis sie die neu­en Prin­zi­pi­en adap­tiert haben und Ver­trau­en und Sicher­heit zu ihnen ent­wi­ckeln. Es ent­ste­hen neue sozia­le Dyna­mi­ken und neue Koope­ra­ti­ons­be­zie­hun­gen sind zu erpro­ben und ein­zu­üben. Das braucht Zeit. Wäh­rend­des­sen muss das ope­ra­ti­ve Tages­ge­schäft weitergehen.

Unse­rer Erfah­rung nach besteht bei einem sehr umfas­sen­den Über­gangs­schritt die erns­te Gefahr, die Orga­ni­sa­ti­on und ihre Mit­ar­bei­ter gefähr­lich zu über­las­ten, wes­halb wir eine schritt­wei­se empirisch-evolutionäre Vor­ge­hens­wei­se befür­wor­ten und mit dem Modell der kol­le­gia­len Füh­rung hier­für ers­te Grund­la­gen geschaf­fen haben.

Wer als Top-Führungskraft über eine sehr gro­ße und dau­er­haf­te Ver­än­de­rung zu ent­schei­den hat, hat ver­ständ­li­cher­wei­se auch ein sehr hohes Sicher­heits­be­dürf­nis und möch­te erst­mal Erfolgs­nach­wei­se und Refe­ren­zen sehen. Bei­spiels­wei­se mit Hil­fe einer Lern­rei­se. Die Alter­na­ti­ve wäre, empi­risch klei­ne und umkehr­ba­re Schrit­te zu gehen. Und selbst ein­mal die neu­en Kon­zep­te im eige­nen Füh­rungs­kreis aus­zu­pro­bie­ren, um selbst die Unter­schie­de zwi­schen alter und neu­er Füh­rung zu erle­ben und zu spüren.

Die Zoo-Bewohner

Lern­rei­sen haben aber auch auf die besuch­ten Unter­neh­men eine nicht zu unter­schät­zen­de (Wechsel-)Wirkung. Sie pro­vo­zie­ren ein Span­nungs­feld, dass die besuch­te Orga­ni­sa­ti­on auch aus­hal­ten kön­nen muss. Ihre Orga­ni­sa­ti­on gilt als Refe­renz, als Vor­bild und das schmei­chelt dem Ego eini­ger Mit­ar­bei­ter, zumeist aber der Inha­ber und Geschäfts­füh­re­rin­nen. Oft­mals kom­men Orga­ni­sa­tio­nen auch nur des­we­gen ins Ram­pen­licht, weil ein­zel­ne Akteu­re (oft ein Geschäfts­füh­rer) das Unter­neh­men nach Außen als Vor­bild, Pio­nier und Inno­va­tor dar­stel­len. Ent­we­der durch eige­ne Publi­ka­tio­nen und Vor­trä­ge oder durch die Teil­nah­me an ech­ten oder bezahl­ten Arbeit­ge­ber­wett­be­wer­ben oder Testimonials.

Wie alle wis­sen, die län­ger in selbst­ge­führ­ten und agi­len Unter­neh­men tätig sind, sind agi­le Unter­neh­men auch kein Pony­hof. Im Gegen­teil, die sozia­le Belast­bar­keit, die Fähig­kei­ten zu wert­schät­zen­dem Feed­back, zu kon­struk­ti­ver und effi­zi­en­ter Kon­flikt­füh­rung und Ähn­li­chem, müs­sen eher stär­ker aus­ge­prägt sein, als in Führungskraft-zentrierten Orga­ni­sa­tio­nen. Die Umstel­lung auf kol­le­gia­le Füh­rungs­prin­zi­pi­en schafft idea­ler­wei­se wenig neue Kon­flik­te, sie wird aber fast immer eine Men­ge bestehen­der und bis­her unter den Tep­pich gekehr­ter Kon­flik­te wie­der sicht­bar machen. Vor­ran­gig auch sol­che The­men, die bis­her fes­te Füh­rungs­kräf­te abge­puf­fert, aus­ge­gli­chen oder aus­ge­ses­sen haben.

So kann es durch Lern­rei­sen zu einer spür­ba­ren Dis­so­nanz kom­men: Einer­seits die erwar­tungs­fro­hen und inspi­rier­ten Besu­cher mit ihrem selek­ti­ven Fremd­bild. Ande­rer­seits die zuwei­len anstren­gen­de und ernüch­tern­de inter­ne Sicht der betrof­fe­nen Mit­ar­bei­ter. Die Inte­gri­tät der Orga­ni­sa­ti­on wird belas­tet und vor allem dann auch über­stra­pa­ziert, wenn die eige­ne Außen­dar­stel­lung als beschö­ni­gend, ein­sei­tig und zu weit ent­fernt von der Mit­ar­bei­ter­per­spek­ti­ve emp­fun­den wird. Die Pro­kla­ma­ti­on der agi­len Orga­ni­sa­ti­on ver­kommt dann zur Hoch­glanz­bro­schü­re oder zu “alter­na­ti­ven Fakten”.

Dies ist umso kri­ti­scher, als dass die Unter­neh­mens­kul­tur auch ein wich­ti­ges Ele­ment der Arbeit­ge­ber­mar­ke ist und zur Gewin­nung neu­er Talen­te ger­ne aus­ge­beu­tet wird. Ein Kol­le­ge, der die­sen Blog­bei­trag vor­ab gele­sen hat, mein­te: “Ich erle­be lei­der sehr oft die über­trie­be­ne Selbst­dar­stel­lung der besuch­ten Unter­neh­men. Da wird alles toll dar­ge­stellt, aber wenn ich hin­ter die Kulis­sen schaue […]”

Lern­rei­sen sind für die besuch­ten Orga­ni­sa­tio­nen also immer eine Grat­wan­de­rung zwi­schen gesun­der Selbst­kri­tik und nütz­li­chem Mar­ke­ting, die nur weni­gen Vor­zei­ge­un­ter­neh­men gut gelingt und gut tut. Als exter­ner Orga­ni­sa­ti­ons­be­glei­ter fra­ge und emp­feh­le ich so gut wie nie mei­ne eige­nen Kun­den, son­dern erzäh­le Geschich­ten und zei­ge Bei­spie­le über sie in eher anony­mi­sier­ter Form und in ihrer Abwe­sen­heit. Sie haben orga­ni­sa­tio­nal und ope­ra­tiv Bes­se­res zu tun und einen ande­ren Zweck.

Unklare Wechselwirkungen

Auf Lern­rei­sen sind vor allem Prak­ti­ken und Arte­fak­te beob­acht­bar, die dahin­ter ste­hen­den Prin­zi­pi­en sind manch­mal schon weni­ger ersicht­lich und die Wech­sel­wir­kun­gen zwi­schen ihnen noch viel weni­ger. Dabei sind eben nicht ein­zel­ne Leuchtturm-Praktiken ent­schei­dend, son­dern ihre geschick­te und his­to­risch gewach­se­ne Kom­bi­na­ti­on auf der Basis über län­ge­re Zeit gelern­ter und ein­ge­üb­ter Prin­zi­pi­en und Hal­tun­gen. Und wer nur Beispiel-Praktiken ken­nen­ler­nen möch­te, kann sich auch das druck­fri­sche und inspi­rie­ren­de Buch “24 Work Hacks – auf die wir ger­ne frü­her gekom­men wären” von Sip­ga­te ansehen.

Fazit

Um Ener­gie mit­zu­neh­men, sich zu inspi­rie­ren und emo­tio­nal auf­zu­la­den, also zur Moti­va­ti­on, fin­de ich Lern­rei­sen pri­ma. Um Ori­en­tie­rung zu gewin­nen und Ent­schei­dun­gen für den eige­nen Weg zu ermög­li­chen, fin­de ich Lern­rei­sen nur ganz sel­ten und unter spe­zi­el­len Bedin­gun­gen hilfreich.

Lern­rei­sen ken­ne ich selbst aus den Rol­len Besuch­ter, Besu­cher und Rei­se­füh­rer. Am wert­volls­ten fand ich dabei, wenn sich Ver­tre­ter ver­schie­de­ner Orga­ni­sa­tio­nen auf Augen­hö­he, also mit ähn­li­chen agi­len Erfah­rungs­ho­ri­zon­ten getrof­fen haben, weil die­se dann unmit­tel­bar von­ein­an­der ler­nen konn­ten. Wie macht ihr dies, wie macht ihr das? Und die wich­tigs­te Erkennt­nis war dann oft­mals: Wir sind gar nicht allei­ne mit unse­ren Her­aus­for­de­run­gen, ande­ren geht es genau­so, das ist also ganz normal.

Eben­falls wert­voll fin­de ich, wenn exter­ne Orga­ni­sa­ti­ons­be­ra­ter und ‑beglei­te­rin­nen mit­ein­an­der in geschütz­ten Räu­men ihre Fäl­le und Erfah­run­gen aus­tau­schen und Theo­rie­ar­beit betrei­ben, was wir ver­su­chen, im Rah­men unse­rer Bera­te­rin­nen­aus­bil­dung zu ermöglichen.

Als Alter­na­ti­ve zur Lern­rei­se bie­ten Clau­dia Schrö­der und ich zwei­mal jähr­lich einen zwei­tä­gi­gen Unternehmer-Workshop an (nächs­ter Ter­min am 19.4. hat noch einen frei­en Platz). Dort gehen Inha­ber und Geschäfts­füh­rer auf Augen­hö­he in den Aus­tausch unter­ein­an­der und vor allem in die Ori­en­tie­rung, Ein­ord­nung und Refle­xi­on der vie­len Fra­gen und Ant­wor­ten zum The­ma spe­zi­ell in Bezug auf ihr eige­nes Unter­neh­men, ihre eige­ne Rol­le und sich selbst als Person.

Es geht dar­um, um zu verstehen

  • wor­auf sie sich mit einer ent­spre­chen­den Ent­wick­lung einlassen,
  • wel­che Chan­cen und Risi­ken sie erwartet,
  • mit wel­chen Zeit- und Finanz­be­darf sie rech­nen sollten,
  • wann sie wel­che Effek­te erwar­ten dürfen,
  • wel­che Bei­trä­ge sie selbst leis­ten können,
  • über wel­che Res­sour­cen ihre Orga­ni­sa­ti­on schon verfügt
  • und wel­che noch zu ent­wi­ckeln sind.

Wenn Zwei­fel und Unsi­cher­heit zum Wozu exis­tie­ren, wenn die obers­ten Ver­ant­wort­li­chen nicht wis­sen, war­um und wo sie hin wol­len, kön­nen Lern­rei­sen auch vom eigent­li­chen Lern­feld ablen­ken oder weg­füh­ren. Dann wer­den frem­de Lösun­gen inspi­riert, imi­tiert oder ein­ge­führt, ohne die eige­nen Pro­ble­me oder Zie­le aus­rei­chend ver­stan­den zu haben.

Und umge­kehrt, wer weiß, was er errei­chen möch­te, der kann ein­fach anfan­gen, das eine oder ande­re aus­zu­pro­bie­ren. Der kann dann dazu über­ge­hen, immer sys­te­ma­ti­scher Ver­än­de­run­gen zu erpro­ben, um im eige­nen Unter­neh­men zu beob­ach­ten, was dar­aus erwächst. Wer in klei­nen Schrit­ten und empi­risch vor­geht, kann nicht viel falsch machen und gestal­tet selbst das Tem­po und das Maß der ver­kraft­ba­ren Unsi­cher­heit. Und das auch nicht allei­ne, son­dern maß­geb­lich durch die betei­lig­ten Mit­ar­bei­ter. Dies ist das uni­ver­sel­le Meta­mo­dell agi­ler Organisationsentwicklung.

Die Lern­rei­se beginnt im eige­nen Unternehmen.

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