Blogserie Bausteine agiler OE (Teil 3): Kollegial verteilte und ziehende Führung

Im drit­ten Teil unse­rer Blog­se­rie zu den wich­tigs­ten Bau­stei­nen agi­ler und kol­le­gi­al geführ­ter Orga­ni­sa­tio­nen und Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lun­gen geht es um das Sog­prin­zip (Pull-Prinzip) und dyna­misch ver­teil­te Führungsarbeit.

Kol­le­gia­le Füh­rung ist die von vie­len Kol­le­gen und Kol­le­gin­nen nach dem Sog­prin­zip (Pull-Prinzip) dyna­misch und dezen­tral über­nom­me­ne Füh­rungs­ar­beit an Stel­le von zen­tra­li­sier­ter Füh­rung durch vor­ge­setz­te exklu­si­ve Füh­rungs­kräf­te nach dem Schub­prin­zip (Push-Prinzip).

Im Kon­text kol­le­gia­ler Füh­rung ver­ste­hen wir Füh­rung nicht als exklu­si­ve Tätig­keit von Füh­rungs­kräf­ten, bei der Arbeit und Ent­schei­dun­gen per Anwei­sung oder Ziel­ver­ein­ba­rung ver­teilt wer­den. Statt­des­sen ver­wen­den wir den Begriff Füh­rungs­ar­beit, um zu beto­nen, dass Füh­rung ein selbst­ver­ständ­li­cher und inte­gra­ler Teil der Arbeit einer jeden Kol­le­gin sein kann. 

Füh­rung ist not­wen­dig, auch hier­ar­chi­sche Füh­rung. Aber wer wann wel­che Füh­rungs­ar­beit über­nimmt, hängt eben auch davon ab, wer dafür gera­de ver­füg­bar ist, pas­send ist und über aus­rei­chend Wis­sen, Kön­nen, Ver­trau­en und Inter­es­se verfügt. 

Für vor­her­seh­ba­re und regel­mä­ßig wie­der­keh­ren­de Füh­rungs­ar­beit und Ent­schei­dun­gen, wer­den Ver­ant­wor­tungs­be­rei­che in Form von Rol­len oder Krei­sen kre­iert und deren Rol­len­in­ha­ber wer­den regel­mä­ßig von der Kol­le­gen­schaft neu bestimmt.

Für spon­tan ent­ste­hen­de Ent­schei­dungs­be­dar­fe und Anlie­gen las­sen sich inter­es­sier­te Kol­le­gin­nen fall­wei­se von der Kol­le­gen­schaft ermäch­ti­gen. Wenn die Ver­trau­ens­kul­tur es zulässt oder die Situa­ti­on es erfor­dert, ermäch­ti­gen sich die Kol­le­gen mög­li­cher­wei­se auch selbst auf der Basis gemein­sa­mer ver­ab­re­de­ter Wer­te und Prin­zi­pi­en. Und für (Führungs-)Arbeit, die kei­ner über­neh­men möch­te, die aber wich­tig ist, gibt es eben­falls ein­fa­che Prin­zi­pi­en zur Hand­ha­bung, die wir hier aus Platz­grün­den nicht vertiefen.

Nicht nur Entscheidungs- und Füh­rungs­be­dar­fe, son­dern Span­nun­gen und Anlie­gen jeder Art, deren Ver­ant­wor­tung noch offen ist, wer­den in die gemein­sa­me Auf­merk­sam­keit gebracht und dann wird abge­war­tet, wer sie sich zieht oder ob sie viel­leicht doch gera­de nicht so wich­tig sind. 

Organisationsentwicklung als mitlaufende Metaführung

Wir wen­den also par­al­lel zwei unter­schied­li­che Prin­zi­pi­en an: Was vor­her­seh­bar ist, wird vor­ab ver­teilt und in Rol­len, Struk­tu­ren und Pro­zes­sen ver­an­kert. Das Unvor­her­seh­ba­re wird mit Hil­fe fes­ter Meta­pro­zes­se fall­wei­se aus­ge­han­delt. Da wir bei­de Prin­zi­pi­en sowohl für die operativ-inhaltliche (Arbeit im Sys­tem) als auch für die orga­ni­sa­tio­na­le Ebe­ne (Arbeit am Sys­tem) anwen­den, und die­se auch pro­zes­su­al gar nicht tren­nen müs­sen, wird Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung ein­fach zum Bestand­teil einer kon­ti­nu­ier­lich mit­lau­fen­den Metaführung.

Wenn eine gro­ße Men­ge von Men­schen koope­rie­ren möch­te, braucht sie auch hier­ar­chi­sche Struk­tu­ren. Der Unter­schied einer kol­le­gia­len Füh­rung gegen­über einer Füh­rung mit fes­ten Füh­rungs­kräf­ten in einer Lini­en­or­ga­ni­sa­ti­on besteht dar­in, dass die Ver­ant­wor­tungs­be­rei­che von den Betei­lig­ten selbst wei­ter­ent­wi­ckelt und neu aus­ge­han­delt wer­den können.

Ziehende Entwicklung (Sogprinzip): Verantwortung durch Unterdruck provozieren

Vie­le Ent­wick­lungs­pro­zes­se basie­ren auf dem Druck­prin­zip (Push-Prinzip), bei dem die Ent­schei­dung, was als Nächs­tes getan wer­den soll, von einer ande­ren Per­son oder Rol­le aus­ge­übt wird, als die, die dies umzu­set­zen hat: Oben wird gedacht, unten wird gemacht. Die mit der Umset­zung betrau­ten Per­so­nen bekom­men dadurch regel­mä­ßig mehr Arbeit auf­ge­drückt, als sie unmit­tel­bar leis­ten kön­nen. An den Eng­päs­sen ent­steht ein Überdruck.

Weil Denken/Entscheiden und Handeln/Umsetzen bei die­ser Vor­ge­hens­wei­se getrennt sind, kommt es sys­te­ma­tisch zu Ver­ant­wor­tungs­ver­lus­ten. Die Umset­zer füh­len sich allen­falls ver­ant­wort­lich für ihr unmit­tel­ba­res Ergeb­nis, nicht aber für deren Bedeu­tung in über­ge­ord­ne­ten Kon­tex­ten. Und die Füh­rungs­kräf­te sind zwar hier­ar­chisch ver­ant­wort­lich für ihre Ent­schei­dun­gen, ver­su­chen aber den­noch regel­mä­ßig, die­se den umset­zen­den Per­so­nen zuzuschreiben. 

Auf­ga­ben kön­nen ver­teilt und ande­ren zuge­teilt wer­den. Ver­ant­wor­tung kann jedoch nur genom­men wer­den. Wer ver­sucht, ande­ren Ver­ant­wor­tung zuzu­schie­ben, bleibt nichts­des­to­trotz solan­ge in der Ver­ant­wor­tung, bis der Emp­fän­ger ent­schie­den hat, die­se zu über­neh­men. Jede Füh­rungs­kraft kann ein Lied davon sin­gen. Füh­rungs­kräf­te bekla­gen sich dann, dass ihre Mit­ar­bei­ter kei­ne Ver­ant­wor­tung über­neh­men. Die­se Kla­gen und Ermah­nun­gen blei­ben ein­fach nur Appel­le. Die Über­tra­gung von Ver­ant­wor­tung ist eine Ver­ein­ba­rung und geht nicht ohne oder gegen die Bereit­schaft des Empfängers.

Das Sog­prin­zip hin­ge­gen basiert auf der Ein­heit von Den­ken und Han­deln bzw. von Ent­schei­den und Umset­zen. Die umset­zen­de Rol­le ent­schei­det. Sie nimmt sich neue Arbeit, sobald sie hier­für wie­der Kapa­zi­tät hat. Dabei stellt sie ihre Arbeits­er­geb­nis­se wie­der­um nach­fol­gen­den Arbeits­schrit­ten zur Wei­ter­be­ar­bei­tung bereit. Kan­ban ist das Mus­ter­bei­spiel für das Sog­prin­zip (Pull-Prinzip). Hier wird der Arbeits­fluss vom Ende zum Anfang betrachtet. 

Die Arbeit ruft

Ein Sog ent­steht durch einen Unter­druck. Hier wird die Ver­ant­wor­tung nicht ver­teilt oder jeman­den zuge­scho­ben. Statt­des­sen gera­ten Mög­lich­kei­ten für Arbeit und Ver­ant­wor­tung in die Auf­merk­sam­keit einer Per­son, die sich dann ent­schei­den kann, sie zu über­neh­men. Die Arbeit ruft. Je mehr sie ruft, des­to stär­ker wird der Unter­druck und des­to schwie­ri­ger wird es für die Per­so­nen, die dies wahr­neh­men und füh­len, sich dem zu entziehen.

Des­we­gen ist es so wich­tig, dass Arbeit mög­lichst nicht ver­mit­telt wird, son­dern unmit­tel­bar bei den pas­sen­den Per­so­nen wahr­nehm­bar wird. Ein Mit­ar­bei­ter, der eine Kun­den­re­kla­ma­ti­on unmit­tel­bar vom Kun­den erfährt, kann sich der Betrof­fen­heit, also dem Sog, kaum ent­zie­hen. Eine abs­trak­te Anzei­ge am Arbeits­ort über die aktu­el­le Rekla­ma­ti­ons­quo­te erzeugt kei­ne ver­gleich­ba­re kör­per­li­che Reaktion.

Das Sog­prin­zip ist ele­men­tar, unver­zicht­bar und uner­setz­lich für eine agi­le Orga­ni­sa­ti­on. Kann es nicht durch geeig­ne­te Struk­tu­ren und Pro­zes­se umge­setzt wer­den, wird es zu kei­ner pro­ak­ti­ven Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on kommen.

Vielfältige Entwicklung

Bereits durch das Prin­zip der ver­suchs­wei­sen Ent­wick­lung wird eine gewis­se Viel­falt in den Ent­wick­lun­gen geför­dert. Statt lan­ge zu über­le­gen, zu pla­nen und zu kal­ku­lie­ren, pro­biert eine agi­le Orga­ni­sa­ti­on in einem begrenz­ten Rah­men Mög­lich­kei­ten aus und ent­schei­det erst dann, was erhal­ten oder aus­ge­baut wer­den soll. Die Ent­schei­dungs­schwel­le ist nied­ri­ger, weil die Kon­se­quen­zen zunächst begrenz­ter sind. Es reicht dann, wenn eine Idee gut genug zum Aus­pro­bie­ren ist und Inves­ti­ti­on und Risi­ken ver­kraft­bar sind.

In einem kom­ple­xen Umfeld, in dem nicht sicher, umfas­send oder recht­zei­tig genug bestimmt wer­den kann, wel­che Ver­än­de­rung die pas­sen­de ist, erhöht eine höhe­re Viel­falt in den Expe­ri­men­ten die Wahr­schein­lich­keit, bedeut­sa­me Ent­wick­lun­gen zu finden.

Ein geziel­ter Aus­tausch ver­schie­de­ner Orga­ni­sa­ti­ons­ein­hei­ten über ihre jewei­li­gen Erfah­run­gen mit unter­schied­li­chen Her­an­ge­hens­wei­sen und Lösun­gen ist nütz­lich. Bei­spiels­wei­se pro­biert ein Kreis oder Geschäfts­be­reich eine ande­re Wei­se der Per­so­nal­aus­wahl oder Schicht­pla­nung aus, als ein oder zwei ande­re. Am Ende der Erpro­bungs­pha­se reflek­tiert und bewer­tet jeder Kreis sei­ne Erfah­run­gen, stellt sie den ande­ren vor und ermög­licht so eine qua­li­fi­zier­te­re Ent­schei­dung, Ände­rung oder gar die Kon­ver­genz zu einem gemein­sa­men Standard.

Das Team- oder Company-Board (Führungsmonitor) als Werkzeug kollegialer Führung

Ein Kanban-ähnlicher Füh­rungs­mo­ni­tor ist ein pas­sen­des Werk­zeug, um Füh­rungs­ar­beit dyna­misch zu ver­tei­len, gemein­sam zu ver­fol­gen und dabei gleich­zei­tig das Sog­prin­zip anzu­wen­den. Ein Füh­rungs­mo­ni­tor ist die kol­le­gia­le orga­ni­sier­te Ope­ra­tio­na­li­sie­rung des Prin­zips der kon­ti­nu­ier­lich mit­lau­fen­den Meta­füh­rung und einer kon­ti­nu­ier­li­chen agi­len Organisationsentwicklung. 

Ausblick

Im nächs­ten (vier­ten) Teil die­ser Blog­se­rie wird es um das The­ma dia­lo­gi­sche Pro­zess­ent­wick­lung gehen.

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