[Dieser Beitrag ist zuerst bei intrinsify.me erschienen]

Wenn ich Organisationen beim Ausbau kollegialer Führungsprinzipien begleite, verwendet ich immer öfter ein bestimmtes Strukturmodell als Basis für die kollegiale Organisationslandkarte. Dieses Modell möchte ich in diesem Beitrag vorstellen.

Markt und Umfeld

Die kollegiale Organisation stelle ich als Modell in Form konzentrischer Ringe dar, die sich in zwei Richtungen gegenüber ihrer Umwelt abgrenzen:

  • Nach Außen gegenüber dem Markt. Hierzu rechnen wir (mögliche) Kunden, Lieferanten, Kooperationspartner, Wettbewerber, die Gesellschaft, den Gesetzgeber und auch den Arbeitsmarkt, also mögliche Angestellte. Dieses Umfeld betritt die Organisation mit ihrer Gründung.
  • Nach Innen gegenüber ihren Inhabern. Irgendjemand hatte die Idee zu einer Organisation, hat sie gegründet und wird damit zum Inhaber. Die Inhaberschaft ist gesetzlich geregelt. Inhaber, die als natürliche Personen selbst auch mitarbeiten oder die Geschäfte führen, sind auch Teil Ihrer Organisationen. Inhaber, die nicht mitarbeiten, sind für die soziale Organisation Externe.

Jede Organisation hat einen von den Inhabern definierten Geschäftszweck, der darin besteht, einen bestimmten konkreten Nutzen für Kunden zu erzeugen (Wertschöpfung).

Anders als das Pfirsichmodell, bei dem die Inhaber zum äußeren Umgebung zählen, grenze ich Markt und Inhaber getrennt ab, weil ihre Funktionen grundsätzlich andere sind: die Inhaber schaffen die Organisation, der Markt empfängt sie.

Abbgrenzung der agiles Organisation nach innen gegenüber Inhabern und nach außen gegenüber dem Markt.

Abb. 1: Abbgrenzung der agiles Organisation nach innen gegenüber Inhabern und nach außen gegenüber dem Markt.

Geschäftskreise

Der äußerste Ring (Peripherie, vgl. Abb. 2) enthält per Definition die Kreise der direkten Wertschöpfung. Hier sind alle Rollen, Aufgaben und Prozesse versammelt, die unmittelbar eine Wertschöpfung erbringen. Direkt wertschöpfende Leistungen sind jene, die für den Kunden einen unmittelbaren und von ihm zu bezahlenden Wert erzeugen. Wertbildende Leistungen sind typischerweise Produktion, Transport, Beratung und Nutzungsrechtvergabe.

Geschäftskreise sind interdisziplinäre ganzheitliche Einheiten, die (zumindest prinzipiell) alle für die spezifische Wertschöpfung notwendigen Fähig- und Fertigkeiten in sich vereinen.
Diese Kreise werden Geschäftskreise, Geschäftsteams oder Geschäftszellen genannt und können weiter untergliedert werden.

Dienstleistungskreise

Damit sich die Geschäftskreise auf die direkte Wertschöpfung konzentrieren können, lassen sie sich von Dienstleistungskreisen unterstützen. Diese erbringen allgemeine und für die aktuelle Wertschöpfung unspezifische Leistungen.

Beispiele: Buchhaltung, Marketing, Personalwesen. Interne IT, Forschung, Produktentwicklung, Innovation, Verkauf, Geschäftsführung.

Koordinationskreise

Jeder Kreis führt sich und seinen Zuständigkeitsbereich selbst. Von Marktmechanismen unterscheidet sich eine Organisation durch den internen Kooperationsvorrang. Die einzelnen Organisationseinheiten arbeiten stetig und dauerhaft zusammen, um sich die Arbeit zu teilen. Dafür etablieren sie feste Koordinationsmechanismen und -prinzipien.

Im kollegialen Führungsmodell sind dies die Verbindungen zwischen den Kreisen sowie Führungs- und Koordinationskreise für übergeordnete oder unternehmensweite Führungs- und Entscheidungsaufgaben. Typische Koordinationskreise sind

  • das Plenum,
  • der Topkreis und
  • ein Strategiekreis,
  • aber auch übergreifende (auch temporäre) Rollen wie für konsultative Fallentscheidungen.
  • Auch spezielle Interessensvertretungskreise können als Führungs- und Koordinationskreise verstanden werden.
Kollegiale Organisationslandkarte mit Unterscheidung von Geschäftskreisen, Dientsleistungskreisen und Koordinationskreisen

Abb. 2: Kollegiale Organisationslandkarte mit Unterscheidung von Geschäftskreisen, Dientsleistungskreisen und Koordinationskreisen

Geschäftsbereiche

Geschäftsbereiche sind Aggregationen von Kreisen, die für einen abgrenzbaren geschäftlichen Bereich grundsätzlich gemeinsam agieren. Ansonsten eigenständige und unabhängige Kreise geben also bestimmte Verantwortungsbereiche an übergeordnete Kreise ab, die sie sich mit anderen teilen. Dadurch entstehen zwischen diesen Kreisen freiwillige Abhängigkeiten.

Darüber hinaus sind Geschäftsbereiche lediglich identitätsstiftende Bezeichnungen ohne spezielle Konstitution.

Beispiel: Im Unternehmen Spotify werden die Geschäftsbereiche Tribes (Stämme) genannt und heißen bspw. Music-Player, Backend oder Infrastuktur. Jeder Stamm wiederum besteht aus einer Reihe von Geschäftskreisen, die bei Spotify Squads genannt werden. Die Teams sitzen auch jeweils in räumlicher Nähe zueinander.

Praktikergemeinschaften

Praktikergemeinschaften (Communities of Practice) sind regelmäßige, selbstorganisierte und informelle Treffen von Spezialisten eines Fachgebietes oder von Inhabern der gleichen Rolle, um gemeinsam Erfahrungen und Wissen auszutauschen, miteinander zu lernen und fachliche Ausrichtungen organisationsintern konvergieren zu lassen.

Zum einen haben verschiedene Kreise eine Menge ähnlicher Rollen (bspw. einen Kreis-Gastgeber, Ökonomen, Mentorinnen). Zum anderen sind in verschiedenen interdisziplinären Teams ähnliche fachliche Disziplinen vertreten (bspw. User-Experience-Experte, Programmierer) die einen fachlichen Austausch auf Augenhöhe nur mit ähnlichen Experten anderer Kreise erreichen können.

Während alle anderen Kreise zur gegenseitigen sozialen Kontrolle transparent und nachvollziehbar arbeiten sollen (Wer ist Mitglied? Wer hat welche Rollen? Was ist der Zweck? Etc.), müssen Praktikergemeinschaften formal nicht besonders konstituiert werden. Ihre Existenz sollte bekannt sein, darüber hinaus arbeiten sie eher informell.

Beispiel: Im Unternehmen Spotify existieren Team übergreifende so genannte Guilds und Chapter. Chapter (in diesem Kontext als „Fachgruppen“ zu übersetzen) sind hier Gruppen von wenigen Mitarbeitern mit ähnlichen Fähigkeiten und Herausforderungen, bspw. zum Thema Softwaretest, innerhalb eines Produktbereiches („Tribe“ genannt) austauschen. Jedes Chapter hat allerdings auch eine Führungskraft mit ähnlichen Kompetenzen wie in einer klassischen Linienorganisation, was für eine komplett kollegial geführte Kreisorganisation nicht notwendig wäre.

Gilden sind bei Spotify größere, offene und eher informelle Gemeinschaften für den Austausch zu einem Themengebiet über die Grenzen von Produktbereichen hinweg. Praktisch sind sie oftmals Treffen aller Chapter zu einem Thema. Jede Gilde hat einen koordinierenden Gastgeber.

Kollegengruppen

Eine Kollegengruppe ist eine feste, mindestens mittelfristig stabile Gruppe von 3 bis 5 Kolleginnen, die sich gegenseitig vertraulich in ihrer persönlichen und fachlichen Weiterentwicklung unterstützen sowie gemeinschaftlich auch Arbeitgeberaufgaben übernehmen (bspw. Beurteilungen für Arbeitszeugnisse sammeln).

Für die individuelle Weiterentwicklung gilt das Grundprinzip: Jede Kollegin ist für ihre eigene fachliche und persönliche Entwicklung selbst zuständig und verantwortlich. Um diese Verantwortung wahrzunehmen, brauchen wir Beurteilungen, Fremdbilder, andere Perspektiven, Anregungen, kritische Fragen, Bestätigungen, Rückhalt u. Ä. die wir mit Hilfe unserer Kollegengruppe organisieren oder auch direkt erhalten.

Eine Kollegengruppe arbeitet vertraulich, nach außen hin ist lediglich bekannt, dass es die Gruppe gibt, wer dort Mitglied ist und das die Gruppe halbwegs funktioniert. Während alle anderen Kreise in einer kollegialen Organisation prinzipiell transparent, offen und für alle nachvollziehbar arbeiten, sind Kollegengruppen vertrauliche Kreise, haben keine Ober- oder Unterkreise und unterhalten keine Verbindungs- bzw. Repräsentantenbeziehungen.

Auch ihr Zweck ist komplementär zu den übrigen: Alle Kreisen dienen prinzipiell dem Zweck der Organisation, persönliche und egoistische Belange werden entsprechend untergeordnet. Kollegengruppen hingegen dienen explizit dem Individuum und seiner persönlichen Weiterentwicklung und Führung.

Das kollegiale Kreismodell mit allen Segmenten

Abb. 3: Das kollegiale Kreismodell mit allen Segmenten

Sofern ich Zeit finde, werde ich in einem späteren Blogbeitrag nochmal weitergehende Beispiele für die einzelnen Arten von Kreisen beschreiben.

Organisationslandkarte als physische Pinwand

Eine funktionierende Selbstorganisation benötigt Klarheit über die Zuständigkeiten und Aufgaben der einzelnen Kreise und Rollen sowie darüber, wer in welchen Kreisen Mitglied ist und wer welche Rollen wahrnimmt. Dazu gehören auch Ansprechpartner, feste Verbindungen zwischen Kreisen und andere organisatorische Schnittstellen. Auch temporäre aber übergreifend relevante Rollen, bspw. konsultative Fallentscheidungen oder Kreise (Projekte) gehören dazu.

Eine einfache Möglichkeit ist eine zentrale Organisationsstruktur-Pinnwand, mit der in ethnografischer Weise die Ist-Situation dargestellt wird. Für deren Aktualisierung sollte eine entsprechende Rolle zuständig sein. Kollegial geführten Organisatinen ab einer Größe von über 30 Personen empfehle ich, an einem zentralen Ort im Unternehmen das Kreismodell physisch zu visualisieren. Auf den angehefteten Karten stehen dann beispielsweise die Nameskürzel der Kollegen, die in dem Kreis Mitglied sind.

Beispiel einer Organisationslandkarte als Pinnwand

Abb. 4: Beispiel einer Organisationslandkarte als Pinnwand

Eine Übersicht, welche Kollegen wo und in welchen Teams arbeiten, lässt sich natürlich auch ganz darstellen. Beim Hamburger Unternehmen jimdo ist das eher ein Etagenplan und in den Teams sind die Mitarbeiter jeweils mit kleinen Fotos visualisiert.

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Organisationslandkarte bei jimdo (Stand 9/2015)

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