Unter dieser Rubrik möchte ich künftig Blogartikel veröffentlichen, die sich mit systemischen Grundlagen beschäftigen. Dabei fokussiere ich auf Modelle, Werkzeuge und Praktiken, die für mich schon lange bei meiner Arbeit hilfreich sind. Im ersten Blog geht es heute um …  

Die systemische Schleife

Die systemische Schleife ist ein grundlegendes Prozessmodell für systemisches Arbeiten mit Einzelpersonen, Teams und Organisationen. Jede Schleife besteht aus vier separaten Schritten: 

  1. Beobachten, Informationen sammeln
  2. Hypothesen sammeln
  3. Interventionen planen, Stoßrichtungen auswählen
  4. Intervention setzen

Nachdem eine Intervention gesetzt ist, kann dann wieder von vorne begonnen werden. Wir beginnen also zu beobachten, was wir mit unserer gesetzten Intervention erreicht haben.

Die systemische Schleife bildet damit das ab, was wir unter normalen Umständen, z.B. im Rahmen eines Gesprächs, im Bruchteil einer Sekunde prozessieren können. Wir hören unserem Gesprächspartner zu, wir interpretieren und bewerten das Gehörte, wir wähle aus verschiedenen Antwortmöglichkeiten aus und antworten letztlich unserem Gegenüber.

Bei der Anwendung der systemischen Schleife während Beratungs- oder Coaching-Prozessen wird diese Abfolge nun stark verlangsamt angewendet, indem man sich für jeden der Schritte explizit Zeit nimmt und die jeweiligen Selektionsprozesse bewusst durchläuft. Anwendbar ist die Schleife auch auf eigene Anliegen, wobei gerade der Kommunikationsprozess der ersten drei Schritte mit einem Berater oder Coach eine Verstärkung des Verlangsamungseffekts erzeugt und damit viel Raum für hilfreiche Reflexionen bietet. Von daher werden die Einzelschritte in der Folge auch im Kontext einer(s) systemischen Beratung/Coachings beschrieben.

1. Beobachten, Informationen sammeln

Im ersten Schritt beobachten wir unseren „Beratungsgegenstand“, also unseren Coachee oder auch das/die zu beratende Team/Organisation. Wir bleiben ganz in der Beobachtung und nutzen alle zur Verfügung stehenden Sinne. Hierzu gehören beispielsweise genaues Hinsehen/Beobachten, aufmerksames Zuhören, das Sammeln und Sichten von Artefakten in Form von Bildern oder Dokumenten aber auch das empathische Hineinfühlen in Situationen und das Erfragen von Stimmungen und Bewertungen im Klientensystem. Wir versuchen dabei, möglichst wenig in Bewertungsmuster zu fallen. Vielmehr verschaffen wir uns ein neutrales gutes Bild der Situation, des „Problems“, des Themas oder schlicht des Klientensystems.

2. Hypothesen bilden

Als nächstes überlegen wir uns sogenannte Hypothesen zu unserem Klientensystem. Hypothesen sind Annahmen über Wirkzusammenhänge und Phänomene im betrachteten System. Aus den Beobachtungen aus Schritt 1 versuchen wir also abzuleiten, was im System wie funktioniert und welche Muster wir darin evtl. erkennen können. Nach dem Hypothesenbilden präsentieren wir der Klientin unsere Hypothesen und konfrontieren sie mit evtl. neuen Perspektiven auf die Funktionsweise seines Systems. Dabei sollten wir unbedingt beachten, dass unsere Hypothesen nur Hypothesen sind und aus Sicht der Klientin nicht zwingend passen müssen. Bei der Bewertung von Hypothesen sind die Kategorien richtig/falsch oder gut/schlecht nicht hilfreich, sondern einzig ob die Hypothesen für die Klientin hilfreich oder nicht sind. Wir müssen also jederzeit bereit sein, unsere Hypothesen wieder loszulassen und sie als „für die Klientin nicht hilfreich“ zu akzeptieren. Außerdem bleiben wir beim Bilden von Hypothesen möglichst „lösungsenthaltsam“, das bedeutet, dass wir mögliche Lösungen für das Problem, die uns beim Sinnieren über den Fall evtl. schon kommen, noch nicht formulieren. Wir wissen ja noch nicht, welche Hypothesen die hilfreichen sind. 

Ein paar Tipps zum Hypothesenbilden:

  • Gerne unkonventionell denken, kreativ sein. Wie könnte es neben dem „Offensichtlichen“ auch noch sein?
  • Bei der Konstruktion der Hypothesen die Perspektive unterschiedlicher Stakeholder einnehmen („Mehrbrillenprinzip“)
  • Variation des Betrachtungsradius: Kurzfristig / Langfristig, groß / klein …
  • Den Fluss der Zeit mitdenken. Wie stehen Vergangenheit und Gegenwart in Beziehung, wie wirken sie aufeinander?
  • Grundannahme: Alles hat einen „Nutzen“ – wenn auch versteckt (–> Funktionalität). Was ist das Gute im Schlechten? Wer hat was davon?
  • Wie zeigen sich Widersprüche, wie werden Konflikte prozessiert?
  • Bei der Präsentation der Hypothesen Bilder und Metaphern nutzen

Anmerkung: Hypothesen sind nichts Stabiles, sind nicht unbedingt nachhaltig passend und hilfreich – sie bedürfen dementsprechend einer laufenden Überprüfung, Neukonstruktion und kreieren immer wieder neue Entscheidungsoptionen.

Nachdem wir unsere Klientin mit unseren Hypothesen konfrontiert haben, lassen wir sie auf die Hypothesen reagieren und die für sie am hilfreichsten auswählen. Erst dann gehen wir in den dritten Schritt.

3. Interventionen planen, Stoßrichtungen auswählen

Nachdem wir die Reaktion auf die Hypothesen gehört haben, gehen wir in eine weitere kreative Phase, in der wir uns nun möglichst viele verschiedene mögliche Interventionen überlegen. Hier können wir nun auch zuvor „unterdrückte“ Lösungsideen zu Rate ziehen, wenn diese noch zu den hilfreichen Hypothesen passen. Was wären mögliche Handlungen, die der Klient unternehmen kann, um in seiner Situation alte Muster zu unterbrechen oder gar neue Muster zu initiieren? Was würde einen echten Unterschied machen? 

Auch hier können wir, wie schon bei den Hypothesen, wieder kreativ sein und möglichst viele Variationen ersinnen. Auch bei den Interventionen sollten wir darauf gefasst sein, dass der Klient nur einige wenige, vielleicht nur eine einzige Intervention zur Umsetzung auswählen wird. Letztlich bleibt ja die Verantwortung für das Setzen der Intervention ganz und gar beim Klienten. Wenn der Klient sich dann entschieden hat, welche Intervention er setzen möchte, können wir noch gemeinsam mit ihm über das genaue Wann und Wie beraten und ihn somit bei der Vorbereitung unterstützen. Mögliche Unsicherheiten und Zweifel können bearbeitet werden. Evtl. schärfen wir die Optionen auch durch eine nächste Runde weiterer Hypothesen und konkretisierter Interventionsvorschläge.

4. Intervention setzen

Die zuvor ausgewählte Intervention wird nun durch den/die Klienten/-in gesetzt. Dieses Intervention-Setzen ist im gesamten Prozess der systemischen Schleife der einzige Aktions-Teil. Die drei Schritte davor dienen ausschließlich der Reflexion und Entscheidungsfindung. 

Da es sich im Kontext systemischer Interventionen immer um den Umgang mit sozialen Systemen handelt, sollten wir uns noch vor Augen führen, dass wir bei Interventionen nicht automatisch mit erwartbaren Reaktionen des Systems, also der Organisation(einheit) rechnen sollten. Oft reagiert das System gar nicht, manchmal entstehen sogar gegenteilige Reaktionen zu denen, die erwartet wurden. Was wir mit einer sorgfältigen Auswahl im Rahmen einer systemischen Schleife erreichen können, ist ist eine höhere Wahrscheinlichkeit für hilfreiche und wirksame Interventionen im Sinne des Klienten. 

Auf jeden Fall können wir nach dem Setzen der Intervention in der Schleife wieder von vorne beginnen und neue Beobachtungen sammeln, die uns dann später wieder zu neuen Hypothesen führen und damit zur Basis neuer Interventionen werden können.

Eine Weiterentwicklung der sytemischen Schleife findet sich im Blogartikel meiner Kolleg*innen Claudia und Bernd aus dem Februar zum Thema „Kleinschrittiges erprobendes Herantasten“ aus ihrer Blogserie „Bausteine kollegialer OE“.

Zur vertiefenden Lektüre zur systemischen Schleife empfehle ich die folgenden zwei Bücher:

  • „Systemische Interventionen“ von Exner/Königswieser 
  • Einführung in das systemische Management“ von Boos/Mitterer