Organisationen aller Art wollen, sollen oder müssen jetzt agil werden. Insofern ist das Thema Agilität auch für die Organisationsentwicklung relevant. Diese ist wiederum klassischerweise systemisch geprägt. Zwischen systemischen und agilen Ansätzen gibt es viele Ähnlichkeiten und auch einige Unterschiede. Wo widersprechen oder ergänzen sich die Ansätze? Wo bieten sie komplementäre Sichtweisen und Ideen? In diesem Beitrag gebe ich hierzu einen ersten und sicherlich unvollständigen Überblick.

Die Ursprünge und historischen Zusammenhänge der verschiedenen Ansätze hatte ich bereits in einem früheren Blogbeitrag dargestellt: Agil, soziokratisch, holokratisch, teal, systemisch etc. – eine kleine Orientierung.

Da es nicht den systemischen und agilen Ansatz schlechthin gibt, sondern dies Containerbegriffe für jeweils ganz unterschiedliche Ideen, Theorien, Modelle, Praktiken und Prinzipien sind, ist die Unterscheidung systemisch zu agil an sich bereits gewagt. Trotzdem: Wir können aus der Unterscheidung lernen und Anregungen und Ideen für unser beraterisches Handeln gewinnen.

Ohne eine besondere Reihenfolge stelle ich nachfolgend wichtige Unterschiede und Zusammenhänbge dar.

Sogprinzip (Pull)

Agile Methoden wie Scrum, Kanban oder agiles Projektmanagement (APM) basieren auf dem Sogprinzip.

In Kanban ist es das zentrale Prinzip, dass der Arbeitsfluss vom Ende zum Anfang betrachtet wird. Wurde in einem Arbeitsschritt die Arbeit erledigt und besteht wieder Kapazität für neue Arbeit, dann wird geprüft, ob neue Arbeit vom vorherigen Schritt übernommen werden kann. Innerhalb des Arbeitsflusses wird die Arbeit jeweils vom Vorgängerschritt gezogen.

Auch in Scrum ist dieses Prinzip zu finden. Hier arbeitet das Entwicklerteam iterativ, beispielsweise in zweiwöchigen Zeitblöcken. Zum Start eines neuen Zeitblockes übernimmt das Entwicklerteam so viele neue Anforderungen aus einer priorisierten Anforderungsliste, wie das Team innerhalb des Zeitblockes meint, abschließen zu können. Auch hier zieht es sich Arbeit. Außerhalb des Teams können die Prioritäten der Anforderungen bestimmt und vorgegeben werden, aber das Entwicklungsteam bestimmt, welche es sinnvollerweise übernehmen kann.

In der systemischen Organisationsentwicklung finden wir hierzu keine vergleichbare Praktik. Ganz im Gegenteil, werden Veränderungen meistens als zielgerichtete Projekte organisiert, in denen Auftraggeber und Projektleitung bestimmen, wann welche Maßnahmen und Interventionen gestartet werden. Sie werden den beteiligten Mitarbeitern vorgegeben und nicht von diesen gezogen.

Die Umstellung von Push zu Pull  in der agilen Organisationsentwicklung hat gravierende Konsequenzen. Das Tempo der Veränderung und (nicht zwingend aber) möglicherweise auch Reihenfolge der Interventionen (bzw. Experimente) gehen von den Veränderungsbetroffenen aus, nicht von den Veränderungsberatern, -begleitern, -verantwortlichen oder deren Führungskräften.

Konstruktivismus und Multiperspektivität

Ein elementares systemisches Prinzip ist der Konstruktivismus, also die Annahme, dass es nicht die eine universelle wahre Realität gibt, sondern jedes Individuum sich seine eigene Realität konstruiert. Jeder Mensch hat seine eigene Perspektive auf die Welt. Dieser Idee folgend treten die Unterscheidungen richtig und falsch oder wahr und unwahr in Bezug auf unsere Beobachtungen zurück hinter der Akzeptanz, dass viele verschiedene Wahrheiten gleichzeitig existieren.

Innerhalb geschlossener Theorien sind Richtig-Falsch-Unterscheidungen relevant, beispielsweise bei der Frage, wie ob 3 * 3 = 9 ist. In der Beobachtung von Verhalten, beispielsweise wer in einem Streit Recht oder Schuld hat, helfen uns stattdessen ganz andere Fragen weiter.

Agile Methoden sind in diesem Sinne nicht konstruktivistisch. Es finden Beurteilungen beispielsweise zum Fertigstellungsstand mit einer einheitlichen Definition von Fertig statt, was ist diesem Kontext auch sinnvoll ist. In den regelmäßigen Retrospektiven wird über die bisherige eigene Arbeit und Kommunikation reflektiert und ein Scrum-Master oder Coach mit einer systemischen Haltung würde vermutlich die Idee des Konstruktivismus berücksichtigen – expliziter Bestandteil von Scrum ist dies nicht. Im Gegenteil, die übliche Scrum-Master-Ausbildung ist im Vergleich zu einer systemisch geprägten Coaching-Ausbildung äußerst rudimentär.

Eine konstruktivistische Haltung ist jedoch für die Organisationsentwicklung relevant. Die Beschränkung auf eine gemeinsame Realitätskonstruktion ist eine wenig hilfreiche Vereinfachung im Kontext eines komplexen Systems. Es werden in spekulativer Weise Kausalitäten unterstellt. Wesentlich sinnvoller ist der systemische Ansatz, bei dem verschiedenen möglichen Realitätskonstruktionen in Form von Hypothesen aufgenommen werden. Deren Wahrscheinlichkeit kann gemeinsam gewichtet werden, so dass die weitere Organisationsentwicklung auf der bewussten Entscheidung für eine oder zumindest einige wenige mögliche Realitätskonstruktionen basiert.

Auf Basis verschiedener Hypothesen werden normalerweise ganz unterschiedliche Interventionen und Organisationsexperimente erfunden und ausgewählt. Deswegen sollten die verwendeten Hypothesen bewusst ausgewählt werden und nicht alleine dem Zufall gruppendynamischer Prozesse überlassen werden.

Serendipität

Methoden wie Design Thinking und Lean Startup provozieren ungewollte Erfindungen. Der Fachbegriff hierfür lautet Serendipität (englisch serendipity) und bezeichnet eine zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist. Bekannte Beispiele sind die Entdeckung Amerikas 1492 oder das Post-it (selbsthaftende Zettel).

Obwohl die systemische Organisationsentwicklung auf kausale Annahmen verzichtet und damit für verschiedenste Beobachtungen offen ist, enthält sie keine unmittelbare Praktik, die ungewollte Erfindungen provoziert, wie beispielsweise die Methoden Design Thinking und Lean Startup.

Für das empirische und evolutionäre Vorgehen agiler Organisationsentwicklung hat Serendipität dabei einen besonderen Wert. Ein (und wenn ggf. auch nur gradueller) Unterschied zwischen einer systemischen zu einer agilen Organisationsentwicklung liegt in der Zielfokussierung. Durch das Serendipitätsprinzip wird die prinzipielle Ergebnisoffenheit über beabsichtigte Ziele und vorhandene Herausforderungen hinaus erweitert auf unerwartete aber nützliche Entwicklungen.

Wie beim systemischen Coaching den Coachee, so können wir die Organisationsmitglieder fragen, welche unbeabsichtigten oder zufälligen Ergebnisse entstanden sind, welche überraschenden Beobachtungen sie gemacht haben und was sie damit Nützliches anstellen könnten. Dazu muss lediglich, ähnlich wie beim Design Thinking, bewusst die Aufmerksamkeit auf diese Fragen gerichtet werden.

Bewusste Irritationen durch systemische Fragen provozieren in ähnlicher Weise ungewollte Perspektiven und neue Ideen.

Geschäftswertorientierte Priorisierung

Kernprinzipien von Scrum und agilem Projektmanagement ist die regelmäßige Priorisierung der nächsten umzusetzenden Anforderungen oder Entwicklungen. In Scrum ist die Priorisierung der Rolle des Product-Owners zugeschrieben und wird damit bewusst unterschieden von den Aufgaben des Entwicklungsteams, das wiederum die Umsetzungsaufwände schätzen kann.

Für eine Priorisierung nach Geschäftswert sind beide Aspekte wichtig:

  •       Welcher Nutzen wird erwartet?
  •       Welche Kosten und Aufwände werden zur Herstellung erwartet?

Das Kosten-Nutzen-Verhältnis kann dann die Basis der Priorisierung bilden. Die Besonderheit von Scrum und agilem Projektmanagement ist die Systematik, mit der diese Priorisierung erfolgt. Im Normalfall wird dies mit einem iterativen Vorgehen verbunden, so dass die Priorisierung zu festen und regelmäßigen Zeitpunkten erfolgt. Dies ist in der systemischen Organisationsentwicklung in dieser Form kein Standard.

Strenge Zeitfenster (Timeboxing)

Iterative Vorgehensweisen wie Scrum unterscheiden bewusst zwischen Meilensteinen und Zeitfenstern (Timeboxen).

Bei einem Meilenstein wird gewartet, bis ein definiertes Ergebnis erreicht wurde. Bei einer Timebox wird zu einem definierten Zeitpunkt ermittelt, welches Ergebnis erreicht wurde. Die Konzepte sind komplementär zu sehen und ergänzen sich gut.

Meilensteine haben oft auf der Makroebene ihren besonderen Nutzen, wo die Nutzbarmachung eines Geschäftswertes von bestimmten zu erreichenden Eigenschaften abhängt. Beim Bau eines Flugzeuges werden beispielsweise beide Flügel benötigt, damit es fliegen kann.

Über Timeboxen kann der sukzessive Ausbau des Geschäftswertes verfolgt werden. Im Beispiel des Flugzeugsbaus könnte ermittelt werden, wie viele Kopfhörerbuchsen des Unterhaltungssystems bereits funktionieren oder ob die Kaffeemaschine bereits betriebsbereit ist.

Klassische Projektplanungsansätze verfolgen eine vollständige Zielerreichung, während agile Ansätze konsequent auf (ausbaubaren Zwischen-) Ergebnisse setzen, die zunächst gut genug sind, um eingesetzt oder ausprobiert zu werden. Die kontinuierliche Verbesserung hat hier Vorrang gegenüber dem Perfektionsstreben.

Ein systemisches Vorgehen ist ebenfalls ressourcenorientiert, weil dort die Aufmerksamkeit auf wahrnehmbare Veränderungen gelenkt wird, um so Veränderungen zu identifizieren. Der Ansatz, dies in Prozesse zu verankern und regelmäßig zu definierten Zeitpunkten zu tun, beispielsweise alle 14 Tage, erzeugt eine größere Unabhängigkeit vom Coach und von begleitenden Beratern.

Irritationen und systemische Fragen

Bewusste Irritationen gehören zum systemischen Standardrepertoire. Irritationen bringen Systeme und seine Teile in Bewegung und provozieren als konstruktive Verstörung neue Aspekte und Sichtweisen. Viele systemische Fragen irritieren, weil sie unkonventionell sind und im Widerspruch zum Alltagsverständnis stehen. Dazu gehören zirkuläre Fragen (Was meinst du wie dein Kollege darüber denkt?), metaphorische Fragen (Wenn euer Team ein Tier wäre, …), hypothetische Fragen (Was wäre wenn, …), manchmal auch Skalierungsfragen (Welchen Wert auf einer Skala von 1 bis 10 würdest du …) und ganz allgemein lösungsorientierte Fragen, die ohne tieferes Problemverständnis auskommen. Besonders hohes Irritationspotential bergen so genannte paradoxe Fragen, die dem Alltagsverständnis völlig entgegengesetzt sind, beispielsweise die Frage, wie man etwas völlig zum Scheitern bringen könnte.

Agile Methoden wie Scrum und Kanban arbeiten typischerweise und zumindest nicht explizit mit Irritationen oder systemischen Fragen, wodurch ihnen alternative Sichtweisen und die damit provozierten neuen Ideen entgehen. Design Thinking fördert vergleichbare Effekte durch Serendipität oder bewusste Wechsel von Problem- und Lösungsraum sowie von divergentem und konvergentem Handeln.

Soziale Ebene

Als typische Ingenieursmethoden sind Scrum und Kanban, aber weitgehend auch Design Thinking und Lean Startup Vorgehensweisen, die sich auf die Sachebene konzentrieren. Es geht um Produkte, Dienstleistungen und die dafür notwendigen Strukturen und Prozesse. Die soziale Ebene wird berücksichtigt durch einige, die Kreativität und Kommunikation anregenden Techniken bis hin zur Ko-Kreation und Interdisziplinarität in Teams, Herstellung räumlicher Nähe und starker Visualisierung wichtiger Artefakte und Informationen.

Darüber hinaus stehen die Menschen als soziale Wesen mit ihren Bedürfnissen und Gefühlen nicht besonders im Aufmerksamkeitsfokus. Ganz anders die systemischen Ansätze, die eben genau diese soziale Ebene explizit berücksichtigen. Wenngleich die Systemtheorie hierzu durchaus gewöhnungsbedürftige Perspektiven und Modelle anbietet, beispielsweise dass soziale Systeme nicht aus Menschen (Objekten) sondern Kommunikationsfäden (Prozesselementen) bestehen.

Sowohl systemische als auch einige agile Ansätze unterscheiden die Arbeit im und am System und steuern eher über eine passende Rahmung, die systemischen aber deutlich bewusster und konsequenter. Beide arbeiten mit Reflexionsschleifen, jedoch schwerpunktmäßig auf unterschiedlichen Ebenen.

Für die Produktentwicklung oder -herstellung, für die agile Methoden erfunden wurden, ist der Fokus auf die Sachebene angemessen und zunächst ausreichend. Sobald es aber um Organisationsentwicklung geht, also nicht um die Herstellung technischer Produkte, sondern die Entwicklung eines sozialen Systems, erweisen sich agile Methoden in diesem Punkt als unzureichend.

Sehr deutlich wird dies am Beispiel des Organisationsmodells Holacracy, welches mechanistisch geprägt ist, mit der Metapher des „organisatorischen Betriebssystems“ arbeitet und dabei ignoriert, dass das System nicht aus kausal berechenbaren Teilen, sondern aus komplexen sozialen Wesen besteht. Menschliche Bedürfnisse geraten dadurch schnell in den Mangel, fördern Kompensationsbedürfnisse und provozieren gar Konflikte.

Systemrationalität und Werte

Systemische Ansätze basieren auf der Idee der System- statt Zweckrationalität, was bedeutet, dass Organisationen nicht dadurch überleben, dass sich ihre Organisationsmitglieder gemeinsame Ziele teilen, sondern dass sie fähig ist, den ganz unterschiedlichen Interessen als gemeinsames Mittel zu dienen. Jeder Mitarbeiter gibt dem Unternehmen einen eigenen Sinn, verfolgt eigene Ziele und benutzt die Organisation für individuelle Zwecke.

Organisationen haben demnach keine einheitliche oder universelle Sinnvorgabe, sondern sind eine Zweckgemeinschaft von Unternehmern und Mitarbeitern, die Kundenbedürfnisse befriedigen, um damit Geld zu verdienen, Anerkennung zu bekommen, herausgefordert zu werden oder was auch immer. Aus dieser Perspektive sind Unternehmensleitbilder und -visionen zu hinterfragen.

Interessant ist nun, dass die Szene der agilen Softwareentwicklung ganz bewusst auf eine Menge bestimmter „Werte“ setzt: Selbstverpflichtung, Einfachheit, Rückmeldungen, Fokus, Kommunikation, Mut, Offenheit und Respekt. Der gemeine Systemiker ist hier manchmal ratlos, weil er sich an Unterscheidungen orientiert, also an der Frage, welche Seiten voneinander abgegrenzt werden. Erst dadurch entstehen operationalisierbare Bezüge zum Handeln.

Oftmals werden die so formulierten Werte lediglich dazu benutzt, über die Eigenschaften eines Menschen zu spekulieren oder zu urteilen, beispielsweise zu bewerten, wie offen jemand ist. Die Werte haben dann Appell-Charakter, fordern bestimmte (vordergründige) Verhaltensweisen und provozieren letztendlich Unternehmenstheater.

Dagegen sind die vier Unterscheidungen aus dem agilen Manifest (Individuen und Interaktionen stehen über Prozessen und Werkzeugen; Funktionierende Software steht über einer umfassenden Dokumentation; Zusammenarbeit mit dem Kunden steht über der Vertragsverhandlung; Reagieren auf Veränderung steht über dem Befolgen eines Plans) konkreter. Aus diesen lassen sich Handlungsalternativen ableiten, weil das eine wichtiger als das jeweils andere eingestuft wird.

Epilog

Die zuvor beschriebenen Unterscheidungen und Besonderheiten sind nicht vollständig und auch inhaltlich nur Annäherungen. Ich habe sie nicht alleine entwickelt, sondern zusammen mit Carsten Holtmann im Rahmen eines Workshops auf dem Symposium 2017 der isb Initiative Nord herausarbeiten lassen. Vielen Dank allen Beitragenden.