In diesem Text beschreibe ich die wichtigsten Einflüsse und Quellen, die uns zu unserer Buchpublikation „Das kollegiale geführte Unternehmen“ inspiriert haben. Die Beschreibung ist aber auch unabhängig von unserem Buch interessant, weil ich die Herkunft und Zusammenhänge wichtiger Begriffe aus dem Kontext aufzeige (agil, soziokratisch, Holokratie, Teal, systemisch etc.).

Unser Buch „Das kollegiale geführte Unternehmen“ ist eine geordnete und ausgewählte Sammlung von Prinzipien, Werkzeugen, Definitionen, Praxiserfahrungen und Perspektiven zum Thema kollegiale geführte Organisationen.

Wir hatten Soziokratie und Holokratie in der eigenen Unternehmenspraxis erprobt und sind dabei verschiedenen Impulsen und Anforderungen nach Vereinfachungen und größerer Flexibilität gefolgt. Beispielsweise erschienen uns einige der Elemente, Regeln und Prinzipien zu formal, zu unpraktisch oder bürokratisch. Einzelne Elemente und Standards, von den Doppelverbindern bis hin zum Konsent, erschienen uns nicht für alle Anwendungsfälle und Situationen nutzbringend genug.

Ebenso haben wir im Laufe der Zeit weitere Praktiken kennengelernt, gefunden und erfunden, die sich für bestimmte Kontexte, für eine bestimmte Zeit oder auch generell als nützlich erwiesen haben, sodass wir sie unserem Werkzeugkoffer als Möglichkeit hinzugefügt haben. Während der Erarbeitung des Buches haben wir diese und andere reale Entwicklungen reflektiert, den Werkzeugkasten aufgeräumt, Begriffe und Werkzeuge gesäubert und geschärft, um dieses verdichtete Erfahrungswissen in Form dieses Buches weitergeben zu können.

Die Inhalte unseres Buches haben also viele Mütter und Väter. Wir haben viele eigene Ideen und Erfahrungen eingebracht und ebenso viele vorhandene Konzepte aufgegriffen und rekombiniert. Manchmal wissen wir auch gar nicht mehr oder noch nicht, woher welche Idee stammt.

Die nachstehende Abbildung (zum Vergrößern raufklicken) zeigt die wichtigsten Einflüsse und Quellen unserer Arbeit, die ich im folgenden Text etwas kommentiere.

[UPDATE 11/2018: Im Beitrag https://next-u.de/einfluesse-agile-oe findet sich eine aktualisierte Version]

Agil

Meinen ersten praktischen Kontakt zu agilen Softwareentwicklungsmethoden (konkret Extreme Programming (XP)) hatte ich Mitte der 1990er Jahre in einem großen Versicherungsprojekt. Die Grundprinzipien und Werte von XP sind noch immer relevant und finden sich sowohl im agilen Manifest hingegen als auch in Scrum grundsätzlich wieder.

Die agile Softwareentwicklung war anfangs vor allem eine Gegenbewegung zum wasserfallorientierten Projektmanagement. An Stelle langer Planungs- und Konzeptionsphasen trat die iterativ-inkrementelle Entwicklung, bei der mit jedem Schritt bereits eine Feedback ermöglichende Teillösung mit Geschäftswert entstand.

Dabei beruht das Wasserfallmodell auf einem historischen Missverständnis. Winston Royce beschrieb in den 1970er Jahren ein Modell, dass aus einer Folge von Iterationen immer gleicher Phasenverläufe bestand. Die Phasen innerhalb einer Iteration hatte er kaskadenartig visualisiert, was zum Begriff Wasserfall führte. Für den allereinfachsten Fall hielt er auch einen einzelnen Zyklus für möglich. Leider verstand der maßgebliche Autor des für die USA wichtigen Standards DOD-STD-2167A nur diese Trivialisierung, die somit schließlich in entsprechende Normen und Vorgehensstandards übernommen wurde. Daraufhin wurde das iterationslose Wasserfallmodell fatalerweise vor allem auch für Megaprojekte herangezogen. Erst 20 Jahre später begann die agile Bewegung in der Softwareindustrie mit der Korrektur dieses Missverständnisses.

Kanban und Lean

Kanban ist eine einfache auf Signalkarten basierende Technik aus dem Toyota-Produktionssystem, welches in den letzten 15 Jahren von der Softwareentwicklung adaptiert und mit Elementen aus dem Lean Product Management angereichert wurde. Dabei wird der Arbeitsfluss visualisiert, meistens mit Hilfe entsprechender Spalten auf einer Kanbantafel, von Push auf Pull als Kooperationsprinzip umgestellt, die Menge der angefangenen Arbeit pro Arbeitsschritt begrenzt und ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess etabliert.

Heute finden wir in der Softwareentwicklung viele Mischformen von agilen und schlanken Vorgehensweisen.

Soziokratische Kreisorganisation

Die ersten Impulse zur Entwicklung der Soziokratie gingen von dem niederländischen Reformpädagogen Kees Boeke aus. Er schilderte das Konzept 1946 in seinem Buch „Redelijke ordening von de mensengemeenschap“ (Vernünftige Ordnung der menschlichen Gemeinschaft). Ganz neu erfunden hatte Boeke das Konzept nicht. Er wurde vom konsensbasierten Entscheidungsprinzip der Quäker, deren Glaubensgemeinschaft er angehörte, und vom französischen Philosophen Auguste Comte inspiriert. Übrigens stammte auch Frederick Taylor auch aus einer Quäker-Familie. Das Wort Soziokratie selbst leitet sich aus dem lateinischen „socius“ (gemeinsam, verbunden) und dem griechischen „krateia“ (Herrschaft) ab.

1926 gründete Boeke in Bilthoven bei Utrecht die Reformschule „Werkplaats Kindergemeenschap“ und entwickelte dort grundlegende soziokratische Werte und Prinzipien. Interessanterweise schickte das niederländische Königshaus drei seiner Töchter, nämlich Beatrix, Irene und Magriet, auf diese Schule. Die Reformschule existiert noch immer: http://www.wpkeesboeke.nl/. Ein Schüler von Kees Boeke, der später seine Ideen adaptierte und unter anderem für die Anwendung in Unternehmen weiterentwickelte, war Gerald Endenburg.

Endenburg übernahm 1968 von seinen Eltern das bis heute bestehende Unternehmen Endenburg Elektrotechniek. Immer noch inspiriert von Kees Boeke und der Soziokratie krempelte er, 36 Jahre alt, das Unternehmen zwei Jahre später um. So entwickelte er schließlich die soziokratische Kreisorganisation. Endenburgs Unternehmen durchstand die Schiffbaukrise in den 1970er Jahren und wuchs später auf 150 Mitarbeiter an.

1978 wurde das Soziokratische Zentrum der Niederlande gegründet, welches die soziokratischen Prinzipien weiterentwickelte und -verbreitete. Später entstand darüber The Sociocracy Group (TSG) als weltweite Dachorganisation der Soziokratie.

Holokratie

Der US-Amerikaner Brain Robertson lernte 2006 beim Soziokratie-Trainer John Buck die Soziokratie kennen, veröffentlichte diese zunächst mit geringen Änderungen und später mit praktischen Weiterentwicklungen unter dem Namen Holacracy (deutsch: Holokratie oder Holakratie). John Buck stellte auch den direkten Kontakt zu Gerald Endenburg her.

Neben der Soziokratie ist die Holokratie durch weitere Entwicklungen beeinflusst:

  • Einerseits durch die Arbeiten von Ken Wilber zur integralen Theorie, aus deren Einfluss sich auch der Name Holokratie ergab.
  • Andererseits durch agile Softwareentwicklungsverfahren wie Scrum. Das ergab sich daraus, dass Brain Robertson agile Verfahren in seiner Softwareentwicklungsfirma Ternary einsetzte.
  • Und schließlich auch durch die Selbstmanagement-Methode Getting Things Done (GTD) von David Allen.

Bei Ternary begann Robertson auch mit agilen Organisationsformen und Holokratie zu experimentieren, wobei das Unternehmen danach in eine wirtschaftliche Krise geriet, die es nicht überlebte. Weiterentwickelt hat Brain Robertson die Holokratie dann mit seinem neuen Unternehmen Holacracy One. Soziokratie und Holokratie sind beides Franchise-Systeme und insbesondere Holokratie-Berater zahlen viel Geld für eine Akkreditierung und geben nicht unerhebliche Teile ihrer laufenden Umsätze an den Franchisegeber ab. [aktualisiert am 12.2.2018]

Trotz der offensichtlichen Übernahme des soziokratischen Modells benennt Brain Robertson diese Quelle nicht, wodurch ihm die Urheberschaft fälschlicherweise öfter zugeschrieben wird (bspw. in der brandEins). In den letzten Jahren wurde die Holokratie wegen zunehmend unbefriedigend verlaufender Umstellungen eher kritisch diskutiert. Robertson verwendet die Metapher eines neuen „Organisations-Betriebssystems“, also ein mechanistisches Bild. Entsprechend unwohl fühlen sich die Mitarbeiter in dieser Maschine. Und auch die abrupte Umstellung auf Holokratie, wie bei einem Betriebssystem-Update, funktioniert natürlich nicht, da Menschen länger zum Lernen brauchen.

Wichtige Konzepte der Soziokratie wie die Kreisstruktur und das Einwandintegrationsverfahren (Konsentmoderation) sind heute immer noch relevant. Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sozio- und Holokratie hatte ich in einem früheren Blogbeitrag erläutert.

„Teal“

Das Buch „Reinventing Organizations“ von Frederic Laloux ist vor wenigen Jahren populär geworden. Frederic greift einerseits integrale Ideen auf, bspw. aus Spiral Dynamics, und hat andererseits eine ganze Reihe von beeindruckenden und inspirierenden Unternehmensbeispielen zusammengestellt. Spiral Dynamics (und verwandte Ansätze) beschreibt die Entwicklungsgeschichte menschlicher Gesellschaften und Organisationen von den Stammesgesellschaften bis hin zu den sich aktuell abzeichnenden Entwicklungen und verwendet dabei eine systematische Farbcodierung, an deren aktuellem Ende die Farbe „Teal“ (Türkis bzw. Petrol) zu finden ist.

Seitdem wird der Begriff „Teal“ oder „Teal-Organization“ als Etikett für eine fortschrittliche Art von Unternehmen verwendet. Eine kleine Einführung in diese entwicklungsgeschichtlichen Ideen finden Sie in diesem früheren Blogbeitrag von mir.

Sozialorganik

Diese Strömung ist nur im Umfeld anthroposophisch orientierter Unternehmen aus dem Umfeld der Alanus-Hochschule bekannt (dm drogeriemarkt, Wala, Weleda, Alnatura, Dennree, GLS-Treuhand, Software-AG etc.) und basiert auf Ideen von Rudolf Steiner, Joseph Beuys u.a. Interessant ist die vom dm drogeriemarkt in den 1990er Jahren eingeführte Wertbildungsrechnung [Link aktualisiert 4.12.2018] als Gegenstück zur klassischen Kosten- und Profitcenterrechnung. Hier geht es eher um die Maximierung gesellschaftlicher oder zivilisatorischer Wirksamkeit statt um egozentrische Gewinnmaximierung, wodurch sich in der Werteorientierung Parallelen zu „Teal-Organizations“ ergeben.

Systemtheorie

Einen ganz erheblichen Einfluss auf das Thema Führung und Organisation hat die soziologische Systemtheorie von Niklas Luhmann. Die wiederum baut auf zahlreichen Entwicklungen wie dem radikalen Konstruktivismus, Kybernetik, autopoietische Systeme und einigen anderen auf.

Im Denkmodell von Luhmann sind die elementaren Einheiten einer Organisation Kommunikationen. Es ist etwas gewöhnungsbedürftig, dass ein soziales hier System nicht aus Dingen, Abteilungen oder Personen, sondern aus Operationen besteht. Dieser Trick umschifft aber elegant die Abgründe der Psyche. Luhmann betrachtet nicht das Denken und Fühlen der Akteure, sondern deren Kommunikation.

Die Menschen mit ihren Gefühlen aus der Betrachtung auszuklammern klingt zunächst etwas kühl und unmenschlich und hat Niklas Luhmann einige Kritiker eingebracht.  Andererseits ist diese Theorie ungemein menschlich, denn sie zeigt eben gerade, wie sinnlos es für die Organisationsentwicklung ist, Menschen verändern oder manipulieren zu wollen, Appelle oder Anweisungen mit dem Ziel von Verhaltensänderung zu verteilen oder den Schuldigen oder Verantwortlichen für ein Geschehen zu suchen. Was in den einzelnen Organisationsmitgliedern passiert, ist von außen kaum zu fassen.

Vor und neben Luhmann gab es zahlreiche andere Systemtheoretiker mit wichtigen Beiträgen. Die gezeigte Abbildung ist insofern etwas willkürlich vereinfacht.

Fritz Simon und Gerhard Wohland haben parallel zueinander auf dieser luhmannschen Basis systemtheoretische Organisationsmodelle beschrieben, die prägend für die aktuellen Entwicklungen im Bereich Organisationen sind.

Systemisch

Systemisch“ ist zunächst einmal einfach ein Allgemeinbegriff für einen ganzheitlichen und die Wechselwirkungen berücksichtigenden Blick auf komplexe Systeme. Ein Systemiker wäre entsprechend jemand, der dieses Systemische berücksichtigt. Über den Allgemeinbegriff „systemisch“ hinaus lässt sich jedoch kaum eine klare Definition oder Grenze finden.

Die Systemtheorie ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger, aber kein exklusiver und auch kein notwendiger Beitrag. Es gibt also systemtheoretisch geschulte Systemiker und ebenso solche, denen die Systemtheorie fremd ist. Für einen Systemtheoretiker kann der Begriff „systemisch“ daher möglicherweise zu schwach und ein ungeschütztes Modewort sein.

Ein reiner Systemtheoretiker könnte sagen: „Eine Organisation besteht nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen.“ Die Theorie erlaubt ihm eine Richtig-Falsch-Unterscheidung. Andererseits gibt es Menschen, die für sich eine systemische Haltung anstreben und damit eine ressourcenorientierte und lösungsfokussierte Perspektive meinen, aus der heraus sie Richtig-Falsch-Unterscheidungen vermeiden, sondern immer wieder fragen, was sich aus unterschiedlichen Realitätskonstruktionen hilfreiches entwickeln ließe.

Eine Person mit einer systemischen Haltung, kennt und versteht diese systemtheoretische Aussage über Organisationen meistens auch, würde aber auch zu anderen Perspektiven einladen. Ein systemischer Praktiker würde sich dabei selbst nicht als Außenstehender verstehen, sondern als Teil des Systems, der die (Wechsel-) Wirkungen der eigenen Kommunikationen berücksichtigt.

In diesem Zusammenhang wird dann auch der Begriff Systemtheoretiker manchmal als Bezeichnung für jemanden verwendet, der auf eine einzelne Theorie festgelegt ist und die Wechselwirkungen seiner eigenen Kommunikationen in einem System gar nicht einbezieht, weil er sich in der Theorie und nicht in der Praxis bewegen möchte. Dabei entsteht der Nutzen einer Theorie ja in der Praxis: „Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie“, wusste schon Kurt Lewin.

Während eine Theorie ein abgegrenzter und in sich geschlossener Denkraum ist, ist „systemisch“ eher ein riesiger Werkzeug- und Denkmodellkasten, in dem alle möglichen Entwicklungen versammelt sind, die in irgendeiner Weise eine ganzheitliche Perspektive auf soziale, psychische oder biologische Systeme haben.

Viele Systemiker haben eine therapeutische oder eigene praktische Herkunft. Beispiele sind die Lösungsfokussierung von Steve de Shazer und Insoo Kim Berg, die Familientherapie von Virgina Satir, die Hypnotherapie von Milton Erickson und Gunter Schmidt, die Lerntheorie von Gregory Bateson, die systemischen Strukturaufstellungen von Matthias Varga von Kibed und Insa Sparrer, die Reflecting Teams von Tom Anderson und vieles andere. Gemeinsam ist ihnen die praktische und nutzbringende Anwendung einer bestimmten Idee oder Theorie bei Menschen. Sie entwickeln Handlungswerkzeuge und probieren Interventionsmöglichkeiten. Dabei verwenden und kreieren sie möglicherweise auch systemtheoretische Beiträge.

Diese vielfältigen systemischen Strömungen sind in der systemischen Organisationstheorie bei Fritz Simon präsent, der als Psychiater, Psychoanalytiker und Familientherapeut auch praktisch mit Menschen gearbeitet hat. Dieser Fokus auf ein praktisches Tun ist bei Niklas Luhmann und anderen reinen Systemtheoretikern kaum erkennbar. Deren rationaler und wissenschaftlicher Zugang ist weniger anwendungsorientiert.

Wenn es also eine Unterscheidung zwischen systemisch und systemtheoretisch geben sollte, dann wohl am ehesten entlang des Wortes „theoretisch“. Den Systemikern und systemischen Beratern und Coaches geht es in der Regel um eine systemische Haltung, um die Nutzung und Fokussierung systemischer Ideen und Theorien im praktischen Tun und Können und alltäglichen Handeln und Verhalten. Sie versuchen ihr eigenes (systemisches) Verhalten zu reflektieren und die Einsichten daraus in ihr eigenes Leben und Arbeiten zu integrieren. Dem gegenüber erscheinen reine Systemtheoretiker vorrangig aufs Denken, Abstrakte und Rationale fokussiert, deren Inhalte distanziert von ihnen selbst sind. Sie entwickelt mehr Denk- als Handlungswerkzeuge oder verstehen sich als Vordenker.

Das Fazit meiner Gedanken zu systemisch und systemtheoretisch: Über den Allgemeinbegriff „systemisch“ hinaus existieren eher kontroverse Definitionen und Unterscheidungen.