Alles nur ein Trend? Oder zündet mit Selbstorganisation eine neue Stufe in Führung und Zusammenarbeit

DAX-Vorstände tragen immer häufiger keine Krawatte mehr.
Das ist gerade ein Trend.
Doch ist auch Selbstorganisation nur eine Management-Mode?
Wir meinen: Nein.

Selbstorganisation kann eine neue Stufe in der Weiterentwicklung von Organisationen sein.
Sie wird sich da, wo sie passt, Schritt für Schritt nachhaltig etablieren.

von Kis­ten Kratz und Karin Volbracht

Schaut man in die Management-Literatur und ori­en­tiert sich an dem Öko­no­men Peter Dru­cker (1909 – 2005), so wur­de seit 1920 nicht mehr wirk­lich etwas Neu­es im Manage­ment ent­wi­ckelt. Dru­cker mein­te, dass die bedeut­sa­men Management-Themen zwi­schen 1910 und 1920 erschie­nen sind und sich seit­dem wiederholen.

Zur Erin­ne­rung: In dem genann­ten Zeit­raum ent­stand das so genann­te Taylor-Prinzip als Grund­la­ge der aus­ge­klü­gel­ten Steue­rung von Arbeits­ab­läu­fen zum Bei­spiel für die indus­tri­el­le Pro­duk­ti­on am Fließ­band. Der Tay­lo­ris­mus und das „Sci­en­ti­fic Manage­ment“ mit den Prin­zi­pi­en von Pla­nung, Steue­rung und Kon­trol­le haben indus­tri­el­le Unter­neh­men auf eine neue Stu­fe von Pro­duk­ti­vi­tät geho­ben. Das war kein Trend, son­dern ein Erfolgsprinzip.

Selbstorganisation ist wie Hierarchie nur ein Mittel zum Zweck

In den 1990er Jah­ren ent­wi­ckel­te dann Prof. Dr. Alfred Kie­ser eine typi­sche Kur­ve vom Auf­kom­men und Abflau­en von so genann­ten „Management-Trends“. Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on galt auch damals schon als Ant­wort auf die Her­aus­for­de­run­gen der Hier­ar­chie und lie­fer­te im Span­nungs­ver­hält­nis zwi­schen Steue­rung und Eigen­ver­ant­wor­tung, Kon­trol­le und Ver­trau­en, den Gegen­pol dazu. 

Die Bewe­gung hin zu mehr Agi­li­tät und kol­le­gia­ler, geteil­ter Füh­rungs­ar­beit ist immer auch ein „weg von“ zen­tra­li­sier­ter Ent­schei­dungs­macht. Die Bewe­gung hin oder her soll für Unter­neh­men immer ein Pro­blem lösen. Hier­ar­chie oder Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on sind für uns bei­des Mit­tel zum Zweck (Unter­neh­mens­er­folg) – und kei­ne oft bei­na­he reli­gi­ös dis­ku­tier­ten Glaubensfragen. 

Bild: Pixabay, Gra­fik K. Volbracht

Rich­tig, das The­ma Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on habe ich (Kirs­ten Kratz) in mei­nen ers­ten Berufs­jah­ren in den 1990er Jah­ren schon ein­mal erlebt: Bei mei­nem dama­li­gen Arbeit­ge­ber wur­den teil­au­to­no­me Arbeits­grup­pen ein­ge­führt. Der „Theo­rie Y“ von Dou­glas McGre­gor fol­gend soll­te eine Arbeits­wei­se ein­ge­führt wer­den, bei der Men­schen Ver­ant­wor­tung über­neh­men, Ent­schei­dun­gen für ihren Arbeits­be­reich tref­fen und Freu­de an der Arbeit erle­ben. Das Wort „Moti­va­ti­on“ wur­de zu einem wich­ti­gen Begriff in Füh­rungs­se­mi­na­ren und auch im jähr­li­chen Mit­ar­bei­ter­ge­spräch. (Hier geht’s zu einem Blog-Beitrag von Karin Vol­bracht über die X‑Y-Theorie.)

Vor 20 Jahren gab es noch keine wirklich belastbare Alternative zur Hierarchie

1997, als Alfred Kie­ser über Moden und Mythen im Manage­ment forsch­te, war das Mar­k­um­feld der meis­ten Orga­ni­sa­tio­nen noch rela­tiv sta­bil. Glo­ba­li­sie­rung und Digi­ta­li­sie­rung waren gefühlt noch in wei­ter Fer­ne. Es gab kla­re Rol­len und Ver­ant­wort­lich­kei­ten und zumeist eine fein zise­lier­te hier­ar­chi­sche Ord­nung im Unter­neh­men. Eine lan­ge Betriebs­zu­ge­hö­rig­keit galt als Leis­tung und wur­de ent­lohnt. Das The­ma Hier­ar­chie wur­de immer wie­der dis­ku­tiert – blieb aber bis auf Expe­ri­men­te unangetastet. 

Was wäre vor gut 20 Jah­ren die Alter­na­ti­ve gewe­sen? Es gab kaum ande­re belast­ba­re Vor­bil­der. Auch das Agi­le Mani­fest, mit dem eine Grup­pe von Software-Entwicklern zunächst in IT-Projekten einen brei­ten Wan­del ange­sto­ßen hat, erschien erst im Jahr 2001.

Hier­ar­chie macht die Din­ge oft leich­ter. Sie redu­ziert Kom­ple­xi­tät, Macht­kämp­fe und Kon­flik­te. Das hier­ar­chi­sche Modell hat in einer plan­ba­ren und vor­her­seh­ba­ren Welt groß­ar­tig funk­tio­niert. Doch die Mecha­nis­men von zen­tra­ler Steue­rung und Kon­trol­le bie­ten wenig Ant­wort auf zuneh­men­de Kom­ple­xi­tät und wach­sen­de Dyna­mik in allen Bran­chen und in allen Märk­ten. Da brau­chen Unter­neh­men Anpassungsfähigkeit. 

Selbstorganisation hilft Spannungen und Widersprüche zu bewältigen

Die Idee von Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on ist theo­re­tisch fun­diert und prak­tisch erprobt. Die theo­re­ti­schen Wur­zeln lie­gen vor allem in der Sys­tem­theo­rie. Dem­nach haben sozia­le Sys­te­me in einem Feld wider­sprüch­li­cher Umwelt­er­war­tun­gen stän­dig Span­nun­gen und Wider­sprü­che zu bewäl­ti­gen. Dass Unter­neh­men heu­te auf agi­le, kol­le­gia­le Metho­den zurück­grei­fen, sehen wir als Reak­ti­on auf die­se zuneh­men­den Span­nun­gen und Herausforderungen. 

Die Schat­ten­sei­te der erfolg­rei­chen Management-Methoden des 20. Jahr­hun­derts tritt immer deut­li­cher zuta­ge: Hier­ar­chi­sche Orga­ni­sa­tio­nen ver­lie­ren in einem dyna­mi­schen Umfeld die Auf­merk­sam­keit für die „Welt da drau­ßen“ als den Ort, wo Wert­schöp­fung ent­steht. Sie wer­den trä­ge und tun sich schwer, den Ver­än­de­run­gen am Markt schnell und ler­nend zu begeg­nen. Dass sich das auch nega­tiv auf die Moti­va­ti­on der Kol­le­gen­schaft aus­wir­ken kann – und auf die Bereit­schaft Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men – ist nur ein Fol­ge unge­lös­ter Span­nun­gen und nicht deren Ursache. 

Der Gebrauch des Worts „Agilität“ deckt oft ein Missverständnis auf

All das ist heu­te bekannt. Und als Gegen­kon­zep­te zur hier­ar­chisch orga­ni­sier­ten Träg­heit und Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit sind „agil“ und „Agi­li­tät“ in der Tat abso­lu­te Trend­be­grif­fe. Doch schaut man in die Wirt­schafts­nach­rich­ten, in Fach­zeit­schrif­ten, auf die Bera­ter­sze­ne und in den Fort­bil­dungs­markt, dann wird ein gro­ßes Miss­ver­ständ­nis deutlich: 

Unter­neh­mer und Mana­ger ver­wen­den das Wort Agi­li­tät vor allem im Kon­t­ext­rah­men von „jugend­li­cher Reak­ti­ons­schnel­lig­keit“. Der damit ver­bun­de­ne Begriff der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on wird eher im Kon­t­ext­rah­men „Abwe­sen­heit von Füh­rung“ und dro­hen­des „Cha­os“ wahr­ge­nom­men. Wir sehen Agi­li­tät und Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on dage­gen unter dem Aspekt der Anpas­sungs­fä­hig­keit auf sich ste­tig wan­deln­de Umfeldbedingungen. 

Wir hören zum The­ma Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on von Füh­rungs­kräf­ten immer wie­der Sät­ze wie: „In der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on gibt es kei­ne Füh­rung.“ – „Da wird end­los dis­ku­tiert.“ – „Das funk­tio­niert nur bei Star­tups.“ – Und wir hören: „Das ist doch auch nur wie­der so ein Management-Trend.“ Für uns zei­gen sol­che Sät­ze eher die Bedürf­nis­se und Wün­sche von Füh­ren­den. Die­se Wün­sche und Bedürf­nis­se neh­men wir ernst.

Selbstorganisation folgt klaren Prinzipien und Prozessen

Agi­le Orga­ni­sa­tio­nen den­ken bewußt nach über unter­schied­li­che For­men der Ent­schei­dungs­fin­dung. Sie eta­blie­ren Pro­zes­se und Struk­tu­ren, die es Teams und Men­schen ermög­li­chen, dezen­tral und selbst­ver­ant­wort­lich  zu ent­schei­den, weil sie ihren Job best­mög­lich erle­di­gen wol­len – jen­seits von einer zen­tra­len Entscheidungsinstanz.

Unse­rer Ansicht nach ist Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on in Form von kol­le­gi­al geteil­ter Füh­rungs­ar­beit zu einer ernst­haf­ten Orga­ni­sa­ti­ons­al­ter­na­ti­ve für Unter­neh­men oder ein­zel­ne Berei­che gewor­den, die anpas­sungs­fä­hig sein müs­sen und wol­len. Auch in der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on wer­den die Wün­sche und Grund­stre­bun­gen von Men­schen und Orga­ni­sa­tio­nen nach Sicher­heit, Leis­tung, Trans­pa­renz, Zuge­hö­rig­keit und Kon­trol­le erfüllt.

Denn dafür gibt es kla­re Prin­zi­pi­en, zum Beispiel: 

  • die Inhaberschaft/Geschäftsführung setzt einen kla­ren Rah­men für Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on (das kann auch nur ein ers­tes Expe­ri­ment sein)
  • Füh­rungs­ar­beit bleibt im Fokus – sie wird nur anders verteilt
  • die Inter­es­sen der Orga­ni­sa­ti­on haben Vor­rang vor den Inter­es­sen des Einzelnen
  • Ent­schei­dungs­ver­fah­ren ermög­li­chen die ein­deu­ti­ge und über­prüf­ba­re Ver­ant­wor­tungs­über­nah­me und geteil­te Führung


Die­se Prin­zi­pi­en ermög­li­chen die ein­deu­ti­ge und über­prüf­ba­re Über­nah­me von Ver­ant­wor­tun­gen und Ent­schei­dun­gen durch die Men­schen aus der Kol­le­gen­schaft, die die­se Füh­rungs­ar­beit leis­ten möch­ten und kön­nen. Ent­schei­dun­gen wer­den mit effi­zi­en­ten Ver­fah­ren getrof­fen, die das Ziel haben, Wider­stän­de zu mini­mie­ren, Ein­wän­de zu inte­grie­ren und die Inter­es­sen der Orga­ni­sa­ti­on zu wahren. 

Dazu gibt ein klein­schrit­ti­ges und auf orga­ni­sa­tio­na­les Ler­nen aus­ge­rich­te­tes Vor­ge­hen bei der Ein­füh­rung von agi­ler Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on jeder­zeit Sicher­heit im Prozess.

Eine evolutionär erreichbare Entwicklungsstufe – ohne „Big Bang“

Agi­li­tät und Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on ein­fach mal in eine Orga­ni­sa­ti­on rein­zu­kip­pen, könn­te der Ver­such sein, sich leicht­fer­tig auf eine Sei­te der oben beschrie­be­nen Span­nungs­po­le zu schla­gen. Berater-Begriffe wie „Dyna­mi­kro­bust­heit“ , „VUCA-Welt“ oder „Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät“ zei­gen nur eine Facet­te davon. 

Die wach­sen­den Ansprü­che der Genera­tio­nen Y und Z, immer fle­xi­ble­re und kür­ze­re Arbeits­ver­hält­nis­se, aus­ge­präg­te Wün­sche nach Auto­no­mie und Eigen­ver­ant­wor­tung, Nach­hal­tig­keit und Gemeinwohl-Ökonomie erzeu­gen ande­re Span­nun­gen. Und Unter­neh­men und Orga­ni­sa­tio­nen brau­chen ein Orga­ni­sa­ti­ons­mo­dell, das mög­lichst vie­le indi­vi­du­el­le Bedürf­nis­se mit dem Unter­neh­mens­zweck und wirt­schaft­li­chem Erfolg versöhnt. 

Es ist unse­re Auf­ga­be als Bera­te­rin­nen, gemein­sam mit unse­ren Kun­den einen dif­fe­ren­zier­ten Blick auf den Sta­tus quo und die Poten­zia­le der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on zu werfen. 

Denn Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on ist kei­ne Mode, kein Trend und kein Patent­re­zept. Sie kommt auch nicht mit einem „Big Bang“. Dafür ist sie eine Mög­lich­keit, Unter­neh­men evo­lu­tio­när für die Zukunft fit zu machen und Arbeit lebens­wert zu gestal­ten. Ob mit oder ohne Krawatte.

Zum Pro­fil von Karin Vol­bracht.

Zum Pro­fil von Kirs­ten Kratz.

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