Einer der großen Unterschiede zwischen „klassisch“ gedachten Veränderungsprozessen und agilen, kollegial geführten Veränderungen in Organisationen ist der Umgang mit Unsicherheit.
Wie geben wir als agile Organisationsbegleiter*innen Sicherheit – ohne eine trügerische Sicherheits-Illusion zu erzeugen?
Der Umgang mit Unsicher bringt wie kaum ein anderes emotionales Thema die Unterschiede der Ansätze für Organisationsentwicklung besser auf den Punkt.
Auf der einen Seite baut die „klassische“ Version des Change Managements durch Jahres-Pläne und ein umfangreiches Interventionsdesign von Beraterseite schöne Sicherheitsillusionen auf. Das gibt Sicherheit. Das erleichtert den Start.
Auf der anderen Seite verweigern wir als kollegial-agile Organisationsbegleiter*innen diese Illusion der sicheren Landung in einem klar definierten Zielgebiet. Wir zeigen die „Wolkenmetapher (Grafik von Bernd Oestereich unten) als Sinnbild für das agile Vorgehen – und für das Handeln unter der Unsicherheit komplexer Wechselwirkungen. Manche Menschen erschreckt das.
Es gibt in der agilen Organisationsentwicklung keine Zielvorgaben. Das wäre keine passende Antwort auf die Komplexität und die Unplanbarkeit der Welt. Statt dessen gibt es eine richtungweisende Grundidee von Seiten der Inhaber*innen oder des Top-Managements. Es gibt Rahmensetzungen und handlungsleitende Prinzipien. Es gibt keinen straff kontrollierten Plan, sondern eine im besten Fall „evolutionäre“ Entwicklung.
Das kann den Start durch Verunsicherung erschweren. Doch dieses Vorgehen erleichtert meines Erachtens das Ankommen in einem tatsächlich zum Besseren veränderten Zustand.
Unsicherheit kann belasten – und erleichtern
Die Zeichnung zu diesem Blog-Beitrag entstand in einer Veranstaltung zur kollegialen Organisationsentwicklung bei einer kirchlich-sozialen Organisation mit rund 3500 Mitarbeiter*innen. Der Vorstand erklärte zum Beginn das WOFÜR des Kollegial geführten Unternehmens. Die Mitarbeitervertretung erklärte, wie sie die Veränderungen aktiv begleitet. Und ich als „Agile Organisationsbegleiterin“ erklärte, wie so ein Prozess funktionieren kann.
Dann kam die Frage nach Etappenzielen und Strategien. Und die Frage: „Wie sieht das Endbild aus?“ Ich erläuterte das „iterative Vorgehen. Schritt für Schritt“. Es gebe keinen geplanten Change-Prozess mit Meilensteinen. Jedes Team, jeder der anwesenden Pilotkreise könne in seiner eigenen Geschwindigkeit in mehr Selbstorganisation gehen. Es gehe um eine nachhaltige Entwicklung von Stufe zu Stufe. Dann fiel mir eines meiner Lieblingszitate ein: „Still confused, but on a higher level.“
Das Zitat wird sowohl dem amerikanischen Psychotherapeuten Steve de Shazer als auch anderen Urhebern zugeordnet. Wie auch immer: Es wirkte bei vielen Menschen im Raum entlastend und sorgte für Heiterkeit. Manche fühlten Konfusion. Und einer machte die oben gezeigte Skizze. Danke dafür!
Sicherheit als Grundbedürfnis
Der Wunsch nach Sicherheit, nach Planbarkeit und Vorhersehbarkeit entspringt einem menschlichen Grundbedürfnis. Das Bedürfnis nach Sicherheit ist je nach Persönlichkeit bei Menschen mehr oder weniger ausgeprägt. Das Streben nach Dauer und Sicherheit ist im Riemann/Thomann-Modell eine von vier „Himmelrichtungen der Seele“. Die Orientierung an Sicherheit, Stabilität und Beständigkeit gehören auch zu den „Big 5“ der gut erforschten Persönlichkeitsmerkmale.
Wie lässt sich dieses Grundbedürfnis in der agilen Organisationsbegleitung anerkennen und integrieren?
Auf der Prozessebene in der Arbeit mit unseren Kunden können wir Sicherheit vermitteln durch Transparenz, klare handlungsleitende Prinzipien und klare Strukturen und Prozesse. Wir übertragen Sicherheit auch durch Kompetenzaufbau bei unseren Kunden. Zum Beispiel durch die Ausbildung von internen Moderator*innen oder Lernbegleiter*innen – um um selbst verzichtbar zu werden.
Freude aus Verunsicherung ziehen
Auf persönlicher Ebene können wir als Begleiter*innen auch Sicherheit geben: durch Souveränität, Wertschätzung und Energie. Wir geben Sicherheit durch eigene Kompetenzen und Vertrauenswürdigkeit.
Doch letztlich bleibt die Gegenüberstellung von Sicherheit versus Eigenverantwortung oder Sicherheit versus Agilität immer sowohl eine Frage des Menschenbildes als auch eine Frage des jeweiligen Umfeldes.
Neben dem Satz „Still confused, but on an higher level“ habe ich übrigens noch ein anderes Lieblingszitat zum persönlichen Umgang mit Unsicherheit: „Freude aus Verunsicherung ziehen, wer hat uns das denn beigebracht.“ Das stammt von der ostdeutschen Autorin Christa Wolf („Kassandra“) und hing in Phasen eigener Veränderungen lange über meinem Schreibtisch.
Zum Profil von Karin Volbracht.
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